Georgisch-russische Grenze

Georgisch-russische Grenze

Georgien/Russland: Bericht zum Jahrestag der Teilmobilmachung in Russland

von Idite Lesom

Herbst: Mobilisierungsdekret, Razzien und Einberufungen

Vor einem Jahr, am 21. September, unterzeichnete Wladimir Putin ein Dekret zur "Teilmobilmachung". Schon am nächsten Tag wurden in ganz Russland Mobilisierungsbüros eröffnet, manchmal an so unerwarteten Orten wie dem Theater von Roman Viktyuk. Unmittelbar danach erhielten die Menschen Einberufungslisten. Diese wurden persönlich übergeben, in Türrahmen oder Briefkästen eingeworfen oder an zufällig vorbeikommende Personen auf der Straße verteilt. In Sankt Petersburg standen Re­kru­tierungs­offizier*innen in den Eingängen von Wohnhäusern und händigten den Bewohner*innen Einberufungspapiere aus. In Wladiwostok kletterten die Beamt*innen durch die Fenster in die Häuser.

Bei der Mobilisierung kam es vom ersten Tag an zu groben Verstößen auf verschiedenen Ebenen. Obwohl angekündigt wurde, dass nur Re­ser­vist*innen mobilisiert würden, erhielten auch Bürger*innen Einberufungs­bescheide, die nie zum Militär gehen sollten: Väter mit vielen Kindern, Behinderte und Menschen ohne jegliche militärische Erfahrung. Darüber hinaus wurde schnell klar, dass die Mobilisierung die Provinzen und ethnischen Republiken besonders stark treffen würde: In vielen Gebieten wie Burjatien und Jakutien wurde die Mehrheit der Männer einberufen und in den Krieg geschickt.

Die Polizei beteiligte sich an der Verteilung von Einberufungsbescheiden und organisierte regelrechte Razzien (...) Einer unserer ersten erfolgreichen Fälle war die Hilfe für ein Opfer einer solchen Razzia. Die Polizei­be­amt*innen holten einen Mann zusammen mit vierzig anderen Personen aus einem Wohnheim in Moskau ab und brachten ihn zu einem Mobilisierungspunkt, von wo aus er sich an uns wandte. Mit unserer Hilfe füllte dieser Mann direkt in dem Raum, in dem er festgehalten wurde, einen Antrag auf Zivildienst aus und informierte in aller Ruhe die Re­kru­tie­rungsoffizier*innen des Militärs über ein Treffen mit dem Militärstaatsanwalt. Anschließend konnte er nach Hause gehen. Dieser Fall beweist, dass es eine Chance gibt, die Mobilisierung zu vermeiden, selbst wenn eine Person bereits in den Händen der Rekrutierungsbeamt*innen ist, aber nur für diejenigen, die hartnäckig sind und ihre Rechte gut kennen.

Schließlich wurden auch Arbeitgebende in die Mobilisierung einbezogen (...). Die Razzien, die Verteilung von Vorladungen und die Verletzung von Rechten führten zu einer gesellschaftlichen Atmosphäre der Angst und Depression, wenn nicht gar der Panik. Es wurde schnell klar, dass es keine Begeisterung für die Mobilisierung gab. Daher verkündete Putin am 1. November, dass die Mobilisierung beendet sei: Er behauptete, die russische Armee sei um weitere 300.000 Personen aufgestockt worden (während nach offiziellen Angaben zwischen September und Dezember nur etwa 20.000 "Freiwillige" rekrutiert wurden). Ein Dekret über das Ende der Mobilisierung wurde jedoch nie unterzeichnet und die Einberufungslisten treffen bis heute ein. Die offensichtlichste Folge der ersten Wochen der Mobilisierung war eine massenhafte Flucht vor der Einberufung in die russische Armee. Groben Schätzungen zufolge verließen 600.000 bis 1.000.000 Menschen das Land, um einer Einberufung zu entgehen. Gleichzeitig mit der Ankündigung der "Teilmobilmachung" wurde Berufssoldaten verboten, die Armee zu verlassen, auch nach Ablauf des unterzeichneten Vertrages. (...) Letzten Endes entschlossen sich schließlich jeden Monat mehr und mehr Soldat*innen zur Desertion. Allein mit unserer Hilfe verließen 507 Deserteur*innen das Land. Nach Angaben von Mediazona gingen bei den Gerichten in Russland im letzten Jahr 3.049 Fälle von Unerlaubter Entfernung von der Truppe ein, und jede Woche fällen sie in solchen Fällen etwa hundert Urteile.

Winter: Reguläre Einberufung und die Rekrutierung von Gefangenen und Berufssoldaten

Zeitgleich mit Putins Ankündigung des Endes der Mobilisierung begann am 1. November die reguläre Herbsteinberufung. Diese wurde von eklatanten Verstößen begleitet und war nur schwer von der Mobilmachung zu unterscheiden: Die gleiche Massenversendung von Vorladungen an alle, die gleichen Razzien an Orten, an denen sich junge Menschen versammelten, von Wohnheimen und Clubs bis hin zu Universitäten und Studierendenwohnheimen. Rekrutierungsoffizier*innen gingen zu den Hochschulen und verteilten die gleichen Einberufungsbescheide zur "Datenabklärung". Einer der Männer, der uns kontaktierte, wurde bei der Bezirkspolizei vorgeladen, nachdem er sich wegen seiner Bewährungsstrafe bei der Polizeiwache gemeldet hatte. Die Rekru­tie­rungs­be­amt*in­nen warteten dort bereits auf ihn, stellten einen Einberufungsbescheid aus und schickten den jungen Mann zu einem Sammelplatz. Es gelang ihm nur zu entkommen, indem er einen epileptischen Anfall vortäuschte und in ein Krankenhaus verlegt wurde.

(...) Nach der offensichtlich unpopulären Mobilisierung beschlossen die Behörden, ihre Taktik zu ändern und eine Kampagne zu starten, um neue Berufssoldaten für die Armee zu gewinnen. Nach den angekündigten Plänen wollte das Verteidigungsministerium die Armee auf diese Weise um weitere 500.000 Personen aufstocken. Straßen und Briefkästen wurden mit Plakaten und Flugblättern überschwemmt, die für eine Verpflichtung warben. In Werbespots wurden Menschen zum Eintritt in die Armee aufgefordert. Die Propaganda versprach viel Geld und auch die Behörden der russischen Regionen versprachen Sonderprämien. Diese Kampagne sollte von lokalen Beamt*innen durchgeführt werden. Sie sollten von Tür zu Tür gehen und auch die Arbeitgeber über die Notwendigkeit informieren, Daten über die Rekruten zu liefern. In der 300.000-Einwohner-Stadt Cherepovets wurden beispielsweise zehntausend Einberufungsbögen verschickt, was bedeutet, dass jeder Dreißigste in das Einberufungsbüro einbestellt wurde.

Frühling: Änderungen in der Militärgesetzgebung und ein neuer Militärdienst

Am 11. April verabschiedete das russische Parlament ein Paket von Änderungen zu sechs föderalen Gesetze, das als "Gesetz über elektronische Einberufungen" bezeichnet wurde. Gemäß diesen Änderungen werden die Einberufungsschreiben nicht nur persönlich, sondern auch über das staatliche Portal für öffentliche Dienstleistungen Gosuslugi versandt. Sobald dies geschieht, werden die Einberufungen automatisch als zugestellt betrachtet. Die Idee war offenbar, dass mehr Druck ausgeübt wird, zu den Einberufungsbüros zu gehen und die Einberufungsschreiben nicht einfach zu ignorieren. Zumindest wird es nach der vollständigen Umsetzung der Änderungen schwieriger sein, dies zu tun. Gleichzeitig haben die Abgeordneten mit den elektronischen Einberufungen ein weiteres Gesetz verabschiedet, das aber fast ignoriert wurde. Am 12. April wurde die Regelung beschlossen, dass Verträge zur Verpflichtung sofort unterschrieben werden können, ohne drei Monate Ausbildung abzuwarten, wie es vorher der Fall war. Das bedeutet, dass sie sofort und massenhaft in den Krieg geschickt werden.

Die Frühjahrseinberufung übertraf die Herbsteinberufung noch an Grausamkeit. Es gab eine neue Welle von Razzien im ganzen Land, aber jetzt nicht nur in Wohnheimen und an beliebten Orten von Jugendlichen, sondern auch in Wohnungen und Häusern. In Moskau wurden junge Menschen, die die Polizei aus anderen Gründen gerufen hatten, in Handschellen gefesselt und zwangsweise zu den Einberufungsbüros gebracht, weil sie sich angeblich hartnäckig dem Militärdienst entziehen seien. Die Einberufungen wurden nicht nur in die Wohnheime der Universitäten, sondern auch direkt in die Vorlesungen gebracht, wie uns empörte Lehrkräfte schrieben.

Schließlich wurden diesmal auch Hochschulabsolventen Opfer der Einberufung, und zwar an Universitäten, die über militärische Ausbildungszentren verfügten. In der Vergangenheit wurden solche Einrichtungen als eine Art Bank benutzt - wenn ein Student einen Vertrag mit einem solchen Zentrum unterzeichnete, erhielt er einen Zuschlag zu seinem Stipendium und einen Platz in einem Wohnheim. Die Studenten waren lediglich verpflichtet, Kurse zu besuchen, in denen erklärt wurde, wie ihr Fachgebiet für das Militär anwendbar war. Nach Abschluss des Studiums mussten sie nur das Geld für diese Kurse zurückzahlen, eine überschaubare Summe von 200.000 Rubel (etwa 2.000 €). Doch im letzten Frühjahr änderten sich die Regeln: Die Höhe der Studiengebühren wurde auf mehrere Millionen Rubel angehoben, den Studenten wurden Probleme mit dem Abschluss gemacht und sie wurden gezwungen, sich beim Militär zu verpflichten. Sie fanden sich praktisch versklavt, und nachdem sie den Vertrag unterzeichnet hatten, baten sie uns, ihnen zu helfen, die Einheit ohne Erlaubnis zu verlassen.

Sommer: Neue Repressionen und Rechtseinschränkungen

Die Sommersaison begann mit der Diskussion und Verabschiedung neuer repressiver Gesetze gegen Militärdienstentzieher. Das Verteidigungsministerium schlug neue Regeln für die Erfassung vor. Sie liefen im Wesentlichen darauf hinaus, dass das Nichterscheinen nach Zustellung einer Vorladung nicht nur eine Geldstrafe, sondern auch ein Ausreiseverbot nach sich ziehen würde. Darüber hinaus wurde beschlossen, ausländische Pässe (ein Ausweis, der es Russen ermöglicht, das Land zu verlassen) von Wehrpflichtigen zu konfiszieren. Gleichzeitig gab es Berichte über andere Rechtsverletzungen, wie die systematische Weigerung, medizinische Untersuchungen ohne Zustimmung der Militärkommissariate durchzuführen. In solchen Fällen beriefen sich die Ärzte in den Polikliniken in der Regel auf "mündliche Anordnungen des Chefarztes", und die Wehrpflichtigen mussten in bezahlte Kliniken gehen.

Bald führten die Abgeordneten mehrere weitere restriktive Maßnahmen ein. Zunächst erhöhten sie das Wehrpflichtalter auf 30 Jahre. Wie üblich folgte auf dieses vieldiskutierte Gesetz in aller Stille ein weiteres: Die Strafandrohung bei Nichterscheinen wurde verschärft - die Geldstrafen wurden um das Zehnfache auf 30.000 RUB (300 €) erhöht (gleichzeitig kursierten Gerüchte über die bevorstehende Einführung einer straf­recht­lichen Haftung, die sich jedoch bisher nicht bestätigt haben). Darüber hinaus wurden die Strafen für Arbeitgeber verschärft: Es wurde beschlossen, ihnen eine Geldstrafe von 400.000 RUB (4.000 €) aufzuerlegen, wenn sie einen Arbeitnehmer nicht darüber informieren, dass er sich beim Militärkommissariat melden soll. Bislang ist es noch zu früh, um über die Ergebnisse dieser verschärften Gesetze zu sprechen: Sie sind noch nicht in Kraft getreten, aber sie werden offensichtlich eine wichtige Rolle bei der bevorstehenden Einberufung im Herbst spielen.

Im Juli und August hat eine Rekordzahl von Soldaten beschlossen zu desertieren, kontaktierte uns und bat uns um Hilfe. Das geschah, obwohl im September, gleichzeitig mit anderen Gesetzen  zur Mobilisierung, die Strafen dafür erhöht wurden und Deserteure nun mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden können.

Es wurde aber schnell klar, dass repressive Gesetze nicht funktionieren. Deserteure, die aufgespürt und verhaftet wurden, landeten oft nicht im Gefängnis, sondern in derselben Militäreinheit aus der sie geflohen waren. Dort wurde ihnen beharrlich angeboten, das Strafverfahren einzustellen oder erst gar nicht zu eröffnen, wenn sie an die Front zurückkehren.  Dies zeigt einmal mehr, dass Beamte bereit sind, alles zu tun, um Soldaten an die Front zu schicken. Sie verstoßen dabei sogar gegen die repressiven Gesetze, die sie selbst verabschiedet haben.

Anfang September dieses Jahres wurden Gerüchte über eine erneute Mobilisierung und sogar die Demobilisierung der vor einem Jahr eingezogenen Soldaten laut. Nun wurde offiziell erklärt, dass es keine Rotation der mobilisierten Personen geben wird, was bedeutet, dass diejenigen, die vor einem Jahr in den Krieg gezogen sind, nicht nach Hause zurückkehren werden. Was die erneute Mobilisierung betrifft, so sind die offensichtlichen Probleme bei der Wiederauffüllung der Armee und die anhaltende Rekrutierung neuer Berufssoldaten der einzige und sehr aussagekräftige Beweis dafür, dass sie sich nähert. Die Herbsteinberufung hat gerade begonnen, und die in den letzten Monaten beschlossenen Änderungen werden in diesem Zeitraum in Kraft treten. Es wird sich zeigen, welche Strategien unter den veränderten Umständen helfen, zu überleben und sich nicht an einem verbrecherischen Krieg zu beteiligen.

Idite Lesom: Report on the anniversary of mobilization in Russia. Oktober 2023. Aus dem Englischen übersetzt von Marah Frech

Stichworte:    ⇒ Flucht   ⇒ Georgien   ⇒ Militär   ⇒ Rekrutierung   ⇒ Russland