Israel/Palästina

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Doppelte Loyalität

von Sahar Vardi

(11.10.2023) Es ist so schwer, hier menschlich zu bleiben. Es ist zermürbend, und es fühlt sich immer wieder so an, als ob die Welt dich dazu auffordert, es sein zu lassen.

Uns Linken wird oft eine doppelte Loyalität vorgeworfen. Und an Tagen wie diesem spüre ich das deutlich. Auch wenn Loyalität hier nicht ganz das richtige Wort ist, wie ich noch erklären werde, stimmt das Gefühl.

Auf dem Mahane Yehuda-Markt in Jerusalem sang heute Morgen ein Straßenmusiker in trauernder Tonlage "Am Yisrael Chai". Der Markt selbst war fast leer, und eine Frau unterhielt sich mit ihrer Freundin über ihren Gemüsehändler, der heute nicht kommen und seinen Laden öffnen durfte. Alle Stände von Araber*innen sind geschlossen.

In einer Straße im Stadtteil Rehavia steigen Familien aus zwei Autos aus. Die meisten von ihnen weinen bereits, die anderen haben eine unbeschreibliche Traurigkeit in den Augen, als sie leise an die Tür eines der Häuser klopfen. Gehören sie zur Familie von jemandem, der gestorben ist? Von jemandem, der entführt wurde?

Du schaust dir ein Video über einen Reinigungsarbeiter an, der im Stadtzentrum verprügelt wurde, weil er Araber ist, und versuchst, deinen Blick nicht abzuwenden.

"Doppelte Loyalität" bedeutet beides, das eine wie das andere mit Tränen in den Augen zu sehen.

Es ist der Moment, in dem du mit einer Freundin sprichst, die nicht weiß, ob ihre Verwandten tot oder entführt sind und worauf sie überhaupt hoffen soll; es ist der Moment, die Hilflosigkeit, die Angst, den tiefen Schmerz zu sehen. Und einen Moment später ist es ein Gespräch mit einem Freund aus Gaza, der nur sagen kann, dass jede Nacht die angsteinflößendste Nacht seines Lebens ist; dass er seine und die Chancen seiner Töchter ausrechnet, am nächsten Morgen lebendig aufzuwachen.

"Doppelte Loyalität" ist das Gefühl des Schmerzes über dieses, aber auch über jenes.

Es ist das Gefühl, diesen Moment festzuhalten, den Schmerz und den Schock angesichts der totalen Zerstörung von Nir Oz und an all die Menschen dort zu denken, und gleichzeitig das Entsetzen über die bevorstehende totale Zerstörung von Shuja’iyya zu spüren und an all die Menschen dort zu denken.

Es ist der Drang, Blut zu spenden und Lebensmittelpakete für den Süden zu organisieren, und gleichzeitig im Dorf Susia im Westjordanland zu sein, wenn Siedler*innen jeden Hirten erschießen, der es wagt, das Dorf zu verlassen.

Loyalität ist vielleicht nicht das richtige Wort. Es ist ein doppelter Schmerz, es zerbricht das Herz auf doppelte Weise, es ist eine doppelte Sorge, doppelte Liebe. Es bedeutet, die Menschlichkeit aller zu bewahren. Und das ist schwer. Es ist so schwer, hier menschlich zu bleiben. Es ist anstrengend, und es fühlt sich an, als ob die Welt dich immer wieder auffordert, es sein zu lassen. Es ist so viel einfacher, "sich für eine Seite zu entscheiden" – es ist fast egal, für welche Seite, man muss sich nur entscheiden und dabeibleiben, um den Schmerz, den man empfindet, zu verringern. Wenigstens fühlt man sich als Teil einer Gruppe und nicht so allein mit all dem.

Als ob das wirklich eine Option wäre. Als ob wir nicht verstehen würden, dass unsere Schmerzen miteinander verwoben sind. Dass es keine Lösung nur für den Schmerz von Ofakim gibt, ohne eine Lösung für den Schmerz von Khan Yunis. Und wir wissen es und wiederholen es und fühlen den Schmerz immer und immer wieder.

Was will ich also damit sagen – und warum? Worum geht es, außer dass ich versuche, das Gefühl auszudrücken, zwei Welten zu haben, die von außen so widersprüchlich aussehen und sich von innen so sehr gleich anfühlen. Ich glaube, die beste Antwort auf die Frage, warum ich schreibe, ist, dass es sich auf eine herzzerreißende und seelenzerfetzende Weise wie der einzige Optimismus anfühlt, an dem ich mich im Moment festhalten kann. Optimismus, der auf der Tatsache beruht, dass es ihn gibt und dass er möglich ist. Und dieser Schmerz, den einige unserer kleinen Gemeinschaft empfinden, diese "doppelte Loyalität", ist vielleicht die größte Hoffnung für diesen Ort.

Sahar Vardi ist israelische Kriegsdienstverweigerin und antimilitaristische Aktivistin.

Sahar Vardi: Dual loyalty. 11. Oktober 2023 https://blogs.timesofisrael.com/dual-loyalty-2/. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2023

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