Israel/Palästina

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Interview mit dem israelischen Kriegsdienstverweigerer Haggai Matar

„Die Angriffe auf den Gazastreifen bringen nichts als Tod und Zerstörung“

von Democracy Now!

(10.10.2023) Nach dem verheerenden Überraschungsangriff militanter Hamas-Kämpfer*innen am Samstag, bei dem Hunderte von Menschen in Israel getötet wurden, darunter viele Zivilist*innen, hat Israel rund 300.000 Reservist*innen mobilisiert, um den Krieg gegen Palästinenser*innen im Gazastreifen zu verstärken. Der Journalist Haggai Matar vom Magazin +972 sagt, dass die Gewalt Israelis zwar schockiert habe, aber dass die andauernde militärische Besatzung und die Apartheid den Boden für die Ereignisse dieses Wochenendes bereitet hätten. "Es gibt keine militärische Lösung. Die wiederholten Angriffe auf den Gazastreifen bringen nichts als Tod und Zerstörung und keine Hoffnung für irgendjemanden von uns", sagt Matar, der den Kriegsdienst in den israelischen Streitkräften verweigert hat.

Amy Goodman: Dies ist Democracy Now!, democracynow.org. Ich bin Amy Goodman, mit Juan González.

Israel setzt die Bombardierung von Gaza-Stadt fort und hat die Mobilisierung von Reservist*innen ausgeweitet. Weitere Informationen erhalten wir von Haggai Matar, einem israelischen Journalisten, Aktivisten und Geschäftsführer des +972 Magazins. +972 ist die Vorwahl von Israel sowie den besetzten Gebieten Palästinas. Haggai Matar ist ein Kriegsdienstverweigerer, der den Dienst in der israelischen Armee verweigert hat. Sein neuer Artikel trägt die Überschrift "Der schockierende Angriff aus Gaza hat die Israelis in Angst und Schrecken versetzt. Man sollte auch den Kontext enthüllen“.

Willkommen zurück bei Democracy Now!, Haggai. Während wir mit dir in Tel Aviv sprechen, erklär uns bitte den Kontext, den du in diesem Krieg für so wichtig hältst.

Haggai Matar: Vielen Dank, Amy.

Als ich diesen Artikel am Samstag schrieb, war der Schock gerade in der Anfangsphase. Wir hatten noch nicht das ganze Ausmaß des Grauens der Gräueltaten im Süden Israels erfahren, über Hunderte von Menschen, die in ihren Häusern und bei einem Musikfestival massakriert wurden, über ganze Ortschaften, die ausgelöscht wurden. Diese Geschichten sickerten nur allmählich durch, und der Schock über diese Tragödie, diese Gräueltaten, begann gerade erst zu wirken.

Es war mir wichtig, diesen kollektiven Schock und die Entsetzlichkeit dieses Angriffs anzuerkennen, aber auch die Geschichte zu verstehen, wie wir als Israelis über viele Jahre hinweg immun dagegen geworden sind. Dass Israel beispielsweise im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg den Gaza-Streifen bombardieren und ganze Familien auslöschen kann, ganze Stadtteile zerstören kann, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dass, wenn aus Gaza Raketen geschossen werden, fast alle vom „Iron Dome“ [israelisches Raketenabwehrsystem, Anm. Redaktion] abgefangen werden. Die Zahl der Opfer, die Israelis und Palästinenser*innen in den Kriegen der letzten zehn Jahre zu beklagen hatten, lag folglich bei 1 zu 100, 1 zu 200 oder so. Gerade eben ertönten hier in Tel Aviv Luftsirenen, und ich bin nicht von meinem Schreibtisch aufgestanden, denn ich weiß, dass es „Iron Dome“ gibt, und ich fühle mich ziemlich sicher. Dieses Gefühl der Sicherheit wurde durch den Anschlag am Samstag mit einem Mal durchbrochen und löste sich auf. Es war mir wichtig, Israelis und die Menschen im Ausland daran zu erinnern, dass Palästinenser*innen dieses Gefühl der Schutzlosigkeit in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, insbesondere die Menschen in Gaza, die regelmäßig von Israel angegriffen werden.

Wenn wir also darüber nachdenken, wie wir den Hamas-Angriff verstehen können, ohne ihn zu rechtfertigen, ist da einerseits die Erkenntnis, dass er nicht grundlos oder einseitig ist. Andererseits müssen wir beim Nachdenken über die nächsten Schritte verstehen, dass es keine militärische Lösung gibt. Diese wiederholten Angriffe auf den Gazastreifen bringen nichts als Tod und Zerstörung und keine Hoffnung für niemanden von uns.

Juan González: Haggai, zu der Frage, ob dies ein grundloser oder einseitiger Angriff war, haben Sie geschrieben, dass "die israelische Armee routinemäßig Razzien in palästinensischen Städten und Flüchtlingslagern durchführt. Die rechtsextreme Regierung lässt Siedlern völlig freie Hand, um neue illegale Außenposten zu errichten und Pogrome gegen palästinensische Städte und Dörfer zu veranstalten, wobei Soldat*innen die Siedler*innen begleiten und Palästinenser*innen, die versuchen, ihre Häuser zu verteidigen, töten oder verstümmeln.“ Könnten Sie darüber sprechen, wie die Palästinenser*innen diese neue rechte Regierung, insbesondere diese rechtsextreme Regierung in Israel, in ihrem täglichen Leben erlebt haben?

Haggai Matar: Sicher. Ich denke, dass wir uns zuallererst an folgenden erinnern müssen, wenn wir den Kontext verstehen wollen, in dem die Angriffe geschehen: Nichts von dem, was diese Regierung tut, ist völlig neu – die Angriffe auf Gaza, die Ausweitung der Siedlungen, die Angriffe auf palästinensische Gemeinden im Westjordanland. Nichts von alledem ist neu. Diese rechtsextreme Regierung geht nur noch einen Schritt weiter, was, wie Sie wissen, im Kontext gesehen werden muss, aber wir müssen auch die Orte erkennen, an denen diese Dinge schlimmer werden.

Seit der Wahl dieser Regierung haben Siedler*innen im Westjordanland viel mehr Spielraum, um zu tun, was sie wollen. Es gibt absolut keine Vorgaben, keine Beschränkungen für das, was Siedler*innen tun können. Wenn sie palästinensische Gemeinden angreifen und ihre Häuser in Brand stecken, werden sie von Soldat*innen begleitet. Wenn sie neue Außenposten auf palästinensischem Privatland errichten wollen, können sie das tun. Wenn sie mitten in Nablus beten wollen, mitten in einer der größten palästinensischen Städte im Westjordanland, können sie das tun, und Soldat*innen werden sie begleiten und beschützen.

Palästinenser*innen fühlen sich schutzlos, weil die palästinensische Polizei sie nicht schützen kann und darf, und wenn sie doch versuchen, sich zu verteidigen, würden die Soldat*innen sie erschießen. Das ist die Realität, welche Palästinenser*innen seit langem und zunehmend in den letzten Monaten spüren.

Juan González: Ein anderes Thema ist, wie die USA und andere Staaten, global einflussreiche Staaten, die ungelöste palästinensisch-israelische Frage seit Jahren im Wesentlichen ignoriert haben – in der Hoffnung, mit den Regierungen der Region zu verhandeln und sich nicht mit der zentralen Frage [Palästinas] zu befassen. Was denken Sie, welche Rolle hat dies bei den Angriffen der Hamas auf Israel gespielt?

Haggai Matar: Ich denke, dass es sehr viel damit zu tun hat. Wir müssen über die Werkzeuge sprechen, die Palästinenser*innen für den Widerstand zur Verfügung stehen, und über das Faustpfand, das sie mit an den Verhandlungstisch bringen können. Palästinenser*innen hatten [in diesem Sinne] nie viel zu bieten. Im Grunde verlangen sie von Israel zu Recht, dass Israel das palästinensische Gebiet verlässt, um einen unabhängigen Staat gründen zu können. Aber alles, was sie im Gegenzug anbieten können, ist die Abwesenheit von Gewalt, also Frieden. Und sie hatten ein weiteres Druckmittel: Wenn ihr mit uns Frieden schließt, erhaltet ihr als Bonus gute Beziehungen zur gesamten arabischen Welt, zur gesamten muslimischen Welt, die sich, zumindest nach außen hin, verpflichtet hat, Palästinenser*innen zu unterstützen und die Beziehungen zu Israel nicht zu normalisieren.

Seit dem Abraham-Abkommen, für das sich [der ehemalige US-amerikanische] Präsident Trump zwischen 2020 und 2021 eingesetzt hat und das jetzt mit dem Normalisierungsabkommen verfestigt wird, das der [aktuelle US-amerikanische] Präsident Biden mit Saudi-Arabien ausgehandelt hat, sehen Palästinenser*innen ihr letztes Faustpfand verschwinden. Netanjahu hat immer gesagt: „Wir können mit der arabischen Welt auch Frieden ohne Palästinenser*innen haben. Wir können einfach über ihre Köpfe hinweg handeln." Und die arabischen Nationen, Staaten und Regierungen sowie die US-amerikanische Regierung haben Netanjahu durch diese Verhandlungen Recht gegeben. Palästinenser*innen, die diese Möglichkeiten nicht haben, sehen immer weniger Möglichkeiten ihre gerechte Sache gegen die israelische Apartheid zu vertreten.

Das rechtfertigt nicht Hunderte von Menschen in ihren Häusern zu massakrieren und ganze Gemeinden von Zivilist*innen auszulöschen. Aber gleichzeitig verstehe ich den Kontext, in dem sich Palästinenser*innen immer verzweifelter fühlen und zu solchen Taten getrieben werden.

Amy Goodman: Haggai Matar, du bist Kriegsdienstverweigerer. Du hast dich geweigert, dem israelischen Militär zu dienen. Kannst du über die allgemeine israelische Reaktion im Moment berichten? Sind Israelis besorgt über die totale Blockade und die mögliche Bodeninvasion in Gaza, die übrigens von der UNO als illegal bezeichnet wurde?

Haggai Matar: Nein, ganz und gar nicht. Es ist wirklich sehr beunruhigend zu sehen, wie sehr man sich über die totale Blockade und die Angriffe [auf Gaza] freut. Wir sehen, wie Leute – sogar Leute, die mit der Mitte und der Linken verbunden sind – reden. Haaretz-Journalist*innen zum Beispiel – natürlich nicht alle, aber einige – haben gesagt, dies sei der richtige Zeitpunkt, um dem Gazastreifen großen Schaden zuzufügen, dies sei der richtige Zeitpunkt, um viele Tote in Gaza zu fordern. Es ist sehr, sehr beunruhigend und schmerzhaft zu sehen, wie das sehr verständliche Gefühl der Erschütterung, der Wehrlosigkeit, der Tragödie über die Massaker im Süden – das ich selbst auch teile – aufgegriffen und so umgesetzt wird, dass Rache die einzige Antwort sei. Ich denke, es ist ein sehr dunkler Spiegel, in den man schauen muss, um zu verstehen, dass die Gräueltaten der Hamas aus diesem Gefühl der Wut, der Angst und der Furcht vor israelischen Angriffen entstanden sind. Und jetzt, als Antwort auf diese Gräueltaten, unterstützen Israelis wieder ihre eigenen Gräueltaten gegen Gaza. Und das scheint eine tödliche Sackgasse zu sein, für beide Seiten.

Amy Goodman: Haggai Matar, israelischer Journalist, Aktivist, Geschäftsführer des +972 Magazins, israelisch-jüdischer Kriegsdienstverweigerer, der sich geweigert hat, in der israelischen Armee zu dienen.

Democracy Now!: Interview mit dem israelischen Kriegsdienstverweigerer Haggai Matar. 10. Oktober 2023. https://www.democracynow.org/2023/10/10/haggai_matar_israel_reservists_palestine. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2023

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