Türkei: Meine Erfahrungen in der Kaserne

von Halil Savda

(15.05.2021) Die Geschichte der Wehrpflicht ist eine Geschichte der Militarisierung. Es ist eine atemberaubende Geschichte. Und die Wehrpflicht ist auch heute noch in Ländern wie der Türkei wirksam.

Entwicklung der Wehrpflicht

Auch wenn sich eine Praxis der Wehrpflicht mit der französischen bürgerlichen Revolution entwickelt hat, wurde sie auf breiter Ebene in den modernen Staaten erst im I. Weltkrieg institutionell umgesetzt.

Es ist eine Zeit, in der sich der moderne Staat und seine Gesellschaft über Nationalismus und den Militärdienst konstituiert. Die Ableistung des Militärdienstes wird gleichgesetzt mit der Liebe zur Heimat. Aber nur Männer mussten Militärdienst ableisten. Daher war der Ruf zur Verteidigung des Heimatlandes ein Ruf an den Mann. So wurden Patriotismus und Männlichkeit zu einer Art Synonym. Nur dem Mann stand das Heldentum zu und es wurde nur ihm zugebilligt.

Darüber ergibt sich folgendes Bild: Die Verteidigung des Heimatlandes wird dem Soldaten anvertraut, dem Mann. Gruppen der Gesellschaft, die nicht rekrutiert werden, wie die Frauen, stehen nun in seiner Schuld und sind ihm gegenüber verpflichtet.“ Der Krieg und die Teilnahme der Männer verleiht ihnen Status und Prestige. Die Gesellschaft schuldet ihm Dank und ist verpflichtet, sich für sein „Opfer“ jeden Tag erkenntlich zu zeigen. Und die Kaserne ist nun der Herrschaftsbereich zur Ausformung und Sozialisierung der Männer.

Wenn ein Mann in dieser Struktur geformt, ausgebildet und seine Rolle als Mann gestärkt wird, soll er sein eigenes Selbst vergessen. Er soll so viel vergessen, dass er sich nicht einmal bewusst wird, dass er als Individuum unterdrückt und seine Persönlichkeit zerstört wird. Er verliert seinen eigenen Willen und gibt unter den Anweisungen eines Offiziers so manches Mal seinen Verstand auf oder sogar sein Gewissen.

Ein Mann, dessen Männlichkeit im Militär geformt wird, ist kein Individuum mehr, sondern ein Rad im Getriebe eines tödlichen Mechanismus. Während er zum Mann wird, vergisst er, jemals ein Individuum gewesen zu sein.

Ein weiterer Faktor, der diesen Mechanismus stärkt, ist eine effektive Nutzung eines militaristischen Gesellschaftsbildes und –systems: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging in England eine Gruppe von Frauen auf die Straße und trug weiße Federn, wenn sie auf Männer trafen, die nicht zum Militärdienst gingen. Die weiße Feder war ein Symbol für Feigheit. Männer, die sich nicht verpflichteten, wurden von der Gesellschaft als Feiglinge angesehen. Mit ihrer Geste entlarvten die Frauen die Männer, die nicht zum Militär gingen.

Hätten Frauen diesen Männern Rosen gegeben!

Für eine gleichberechtigte und freie Zukunft ist eine Praxis, sich dem Militärdienst zu entziehen, sehr wertvoll. Es ist davon auszugehen, dass die Entwicklung der Allgemeinen Menschenrechte kein Ergebnis militärischer Organisationen und bewaffneter Auseinandersetzungen war. Das Entwicklungs­niveau unserer Gesellschaften in Bezug auf Frieden, Gleichheit und Freiheit sowie die international vereinbarten Institutionen und Konventionen sind Ergebnis der Arbeit und Leistung eines zivildemokratischen Kampfes.

Wer die Errungenschaften der Gleichheit, des Friedens und die libertäre Entwicklung der Gesellschaften den Armeen zuschreibt, lügt. Das Recht auf Leben und Unversehrtheit ist eines der grundlegendsten Rechte, und die Flucht vor dem Militär ist für den Schutz dieses Rechts von entscheidender Bedeutung.

Der Militarismus manifestiert und reproduziert sich im Laufe der Geschichte auf zwei Arten: Erstens als politische Gleichsetzung von Macht und Militär. In diesem Fall ist die Armee entweder selbst an der Macht oder hat entscheidenden Einfluss. In Gesellschaften mit entwickelter Demokratie ist der Einfluss des Militärs auf die Politik begrenzt und nicht sichtbar. In weniger entwickelten Gesellschaften wie in der Türkei ist aber sichtbar, wie das Militär in die Politik hinein wirkt.

Zweitens durch Reproduktion im Alltäglichen. Diese Form existiert sowohl in unterentwickelten Ländern wie auch in hochentwickelten Gesellschaften. Ein Mann, der keinen Militärdienst abgeleistet hat, wird nicht als Mann angesehen. Es gibt einen Diskurs, in dem der Soldat zum „Helden“ erklärt wird, der „altruistisch, aufopferungsvoll und mutig“ ist. Es heißt dann: „Und was ist, wenn du nicht zur Armee gehst, wenn du vor dem Militär davonläufst, wenn du nicht dienst? Dann bist du ein Feigling! Du wirst kein Mädchen kriegen.“

Diese Sprache ist sehr effektiv und durchdringt metaphorisch die Gesellschaft. In der Türkei heißt es in einem Slogan entsprechend: „Jeder Türke wird als Soldat geboren!“ In der Armee wird das Kämpfen und Verwunden heilig gesprochen und mit Medaillen belohnt.

„Märtyrer sterben nicht und das Vaterland, die Mutter, ist unteilbar“. Heimat und Militärdienst werden gleichgesetzt. Wenn es eine Heimat gibt, gibt es Militärdienst. Auch die Umkehrung wird als wahr postuliert: Wenn es eine Armee gibt, ist die Heimat sicher und existiert. Es ist möglich, dass das Heimatland durch eine starke Armee sicher und mächtig ist. Das findet sich wieder in folgendem Slogan: „Eine starke Armee – eine starke Türkei!“ Und der im Krieg verstorbene Soldat wird glorifiziert, ihm wird die Ewigkeit versprochen: „Märtyrer sterben nicht, das Land ist unteilbar!“

Genau deshalb ist die Heimat eng verbunden, geradezu identisch, mit dem Militärdienst. Und dieser ist für alle männlichen Bürger, die 20 Jahre alt geworden sind, verpflichtend. Wer dem Dienst nicht nachkommt, wird mit einer Reihe von Strafverfahren belegt.

Ich ging zur Armee

Im Juni 1996 ging ich widerwillig zur Armee. Ich musste gehen, als Mann und Bürger in der Türkei musste ich Soldat werden. Während ich in Manisa in die Kaserne zog, war ich für mich auf der Suche, wie ich trotz allem mit diesem Staat und seiner traditionellen Gesellschaft leben könnte.

Zwei Wochen mussten Hunderte von Menschen marschieren und exerzieren: „Stillgestanden“, „Rechts um“, „Links um“, „Marsch marsch“, tönte es über den Platz. Jedes Mal beim Appell hieß es, das „Vaterland steht an deiner Seite“, „Jeder Türke wird als Soldat geboren“. Alle Slogans waren entweder gegen Frauen oder gegen Kurden gerichtet. Alle Gruppen und Menschen, die nicht türkisch und nicht männlich waren, wurden zum Ziel. Wir würden nach Şırnak und Diyarbarkır geschickt werden, um diese Orte türkisch zu machen!

Mindestens vier Mal am Tag gab es einen Appell. Hunderte von Männern standen nebeneinander in Reih und Glied und wurden gezählt. Jedes Mal, wenn wir uns zum Abendessen setzten, wurde ein Gebet gesprochen. Wir wurden mindestens einmal am Tag zum Putzen abkommandiert. Wir sammelten Zweige oder Zigarettenkippen auf. Die Tage waren eintönig und langweilig. Das ging zwei Wochen so.

Ich ging zur Krankenstation der Kaserne. Seit meiner Kindheit hatte ich eine Beule am Kopf, die fast so groß war wie ein Tischtennisball. Von dort wurde ich ins Militärkrankenhaus nach Manisa geschickt. Einige Tage später wurde ich dem Militärkrankenhaus GATA in Izmir überstellt. Ich wurde operiert und die Beule wurde entfernt. 21 Tage lang wurde ich behandelt.

In dieser Zeit wurden ungefähr weitere zehn Soldaten in diesem Krankenhaus behandelt. Die meisten von ihnen waren bei Zusammenstößen mit der PKK in Kurdistan verletzt worden.

Unter ihnen waren welche, denen im Krankenhaus Glieder amputiert wurden. Aber sie hörten auch danach nicht auf, den Krieg zu segnen. Vielleicht ist es für sie eine Möglichkeit, mit der Last des von ihnen gezahlten Preises umzugehen. Wie könnten sie sonst überleben?

Einer hatte seine Augen verloren, er kann keine Blume mehr sehen, nicht die Frau, die er liebt, keinen Tisch und keine Straße. Das Leben wird fortan für ihn dunkel sein. Wie kann ein Mensch auf diese Weise leben? Der Preis, den er zahlt, ist hoch und er ist sich dessen bewusst.

Ein anderer hat keinen Arm mehr. Er wird nichts mehr berühren können, was er liebt. Ein anderer verlor beide Füße. Diese Soldaten wissen nicht, dass die sogenannte Heimat Gliedmaßen verloren hat… Die Heimat ist nicht mehr da.

Vielleicht würden sie nicht zum Militär gehen, wenn diese Männer die Wahl hätten. Aber sie haben keine Wahl und sie wurden geschädigt, als sie den Dienst leisteten und nun werden sie für immer beschädigt sein. Es ist ein eindringliches und erschreckendes Bild, ein Zeugnis dafür, was der Krieg in der Türkei bedeutet.

Nach 21 Tagen wurde ich zu einem Ausschuss für die gesundheitliche Prüfung in GATA gebracht. Sie verordneten mir 20 Tage Ruhepause. Ich kam zurück in die Kaserne in Manisa und war dort außer Dienst gestellt, ohne Exerzieren, ohne Ausbildung. Ich saß 20 Tage lang im Clubhaus und im Speisesaal der Kaserne.

Nach zwei Monaten gaben sie mir Stiefel, erneut begannen Sport und militärisches Training. Wieder wurden militärische Hymnen gespielt, ergingen rassistische Rufe und Befehle, die den Willen zerstören. Nach 75 Tagen erhielt ich einen Marschbefehl und einen kurzen Urlaub zur Verlegung.

Ich bin nie in die Kaserne zurückgekehrt!

Ich bin dem Befehl nicht gefolgt. Ich würde keinen Militärdienst mehr ableisten. Ich bin nach dem Urlaub dem Marschbefehl nicht nachgekommen und habe mich nicht bei der neuen Kaserne gemeldet. Jahre später wurde ich erwischt.

Im November 2004 wurde ich gefasst und mit gefesselten Händen in eine Militärkaserne gebracht, dieses Mal in die Kaserne Tekirdağ/Beşik­tepe. Neun Jahre waren vergangen.

Sie brachten mir eine Uniform und Stiefel. Ich sagte: „Ich bin Kriegsdienstverweigerer und werde keine Uniform tragen.“ Sie antworteten: „Du musst sie tragen.“ Ich erwiderte: „Ich werde sie nicht anziehen.“

Sie brachten mich in das Zimmer des Kompaniechefs. Er sah mich an und sagte: „Jeder muss Militärdienst leisten, auch Du musst es tun. Wenn Du die Uniform nicht anziehst, werde ich eine Meldung machen und es der Militärstaatsanwaltschaft melden. Dann gehst Du ins Gefängnis.“ Seine Stimme war weich und sanft.

Ich antwortete ihm: „Ich bin Kriegsdienstverweigerer. Ich bin gegen Krieg und möchte an keiner militärischen Organisation beteiligt sein. Deshalb will ich keine Uniform tragen. Ich werde die Uniform nicht anziehen, auch wenn ich ins Militärgefängnis geschickt werde, weil ich ein Kriegsdienstverweigerer bin.“

Der Kommandeur saß an seinem Schreibtisch. Ich stand direkt vor ihm. Nach einer Weile sagte er: „Zieh die Uniform an. Ich werde Dich außer Dienst stellen, dann musst Du nicht trainieren und nicht arbeiten. Aber zieh die Uniform an und setz Dich ins Casino.“ „Ich trage keine Uniform“, erwiderte ich. Dann schrieb er eine Meldung.

Kommandanten kamen und gaben mir jeden Tag neue Befehle: „Steh auf, geh zur Musterung, schneide Dir die Haare usw.“ Ich habe keinen der Befehle befolgt.

Disziplinargefängnis

Sie verurteilten mich zu sieben Tagen Disziplinarstrafe und brachten mich in den Militärarrest im Zentralkommando Tekirdağ. Dort steckten sie mich in eine Einzelzelle. Es war kalt und es gab nur eine Decke. Ich trug einen Mantel, den sie mir aber wegnahmen. Das Tor des Gefängnisses war zum Meer hin ausgerichtet. Die Tür meiner Zelle war verriegelt und war direkt am Außentor. Der Wind, der vom Meer kam, wehte genau auf die Zellen zu. Mir war kalt. Ich bat um Decken und Kissen. Ich bekam sie nicht. Der Gefängniswärter, ein hochrangiger Feldwebel antwortete mir nur: „Wenn Ihnen kalt wird, dann werden Sie schon die Sachen tragen.“ Ich habe nie die Sachen getragen.

Eine Woche blieb ich dort. Dann brachten sie mich zum Militärgericht Çorlu, wo ich verhaftet wurde. Ich blieb ungefähr einen Monat im Militärgefängnis. Dort gab es zu Beginn die gleiche Zeremonie: „Schneide Deine Haare“ – „Ich lasse mir meine Haar nicht schneiden“ – „Trage die Uniform“ – „Ich ziehe keine Uniform an“ – „Steh auf“ – „Ich stehe nicht auf“.

Nach einem Monat, am 28. Dezember 2004, wurde ich zum Militärgericht gebracht. Aus Istanbul kamen Kriegsdienstverweigerer und antimilitaristische Frauen zum Prozess. Ich erläuterte ausführlich meine Gründe, warum ich Kriegsdienstverweigerer bin.

Es war das erste Mal, dass ich andere Kriegsdienstverweigerer und Antimilitarist*innen sah. Sie kamen zu meiner Unterstützung. Seit Jahren sind wir befreundet und mit den meisten von ihnen treffe ich mich noch immer.

An diesem Tag wurde ich freigelassen, aber direkt zum Militärbüro nach Çorlu gebracht. Dort gaben sie mir einen Marschbefehl und sagten: „Melde Dich in 48 Stunden bei Deiner Einheit“. Dann ließen sie mich laufen.

Ich folgte dem Marschbefehl nicht. Ich ging stattdessen zu Freunden nach Istanbul. Da ich mich nicht gemeldet hatte, beschloss das Militär, einen Haftbefehl zu erwirken.

Ich versuchte, sichtbar zu sein wie alle anderen Kriegsdienstverweigerer auch. Ich habe mich nicht versteckt. Ich wurde Mitglied des Menschenrechtsvereins Istanbul, später auch Mitglied des Vorstandes. Mit einem Ausschuss für Kriegsdienstverweigerung und dem örtlichen Ausschuss gründeten wir eine Plattform zur Kriegsdienstverweigerung, an der sich viele lokale Parteien und demokratische Organisationen beteiligten.

Mein Verfahren wurde wieder aufgenommen, als der Oberste Militärgerichtshof das Urteil aufhob. Ich nahm im Dezember 2006 an dem Prozess vor dem Militärgericht Çorlu teil, weil ich die Kriegsdienstverweigerung sichtbar machen wollte. Ich wurde wieder verhaftet und verurteilt. Zwei Monate später wurde ich rausgelassen und in Handschellen der Militärkaserne Tekirdağ/Beşiktas überstellt.

Und wieder das Disziplinargefängnis... Es war dieselbe Zelle und Februar. Mitten in der Nacht schickten sie einen 20-jährigen Jungen zu mir in die Zelle. Seine Beine waren verbunden worden, da sie wund und geschwollen waren. Die Zelle war so klein, dass er sich nur in einer Ecke hinkauern konnte, wenn ich mich hinlegte. Ich gab ihm meine Decke, sagte, „Leg Dich hin, leg Dich hin“. Ich ging in eine Ecke der Zelle. Schon mit Decke war mir kalt gewesen, nun hatte ich keine mehr.

Der junge Mann hieß Ferhat. Er stammte aus einer nationalistischen und staatstreuen Familie und ging begeistert zur Armee. Dort wurde er von Offizieren geschlagen und war Misshandlungen ausgesetzt. Er fand dort nicht das, was er erhofft hatte. Als er einen Marschbefehl erhalten hatte, ging er nicht zur Armee zurück. Erwischt wurde er, als er mit Freunden zusammensaß und trank. In Çorum, wo er lebte, wurde er mit einem Messer am Bein verletzt.

Nachdem sein Bein im Krankenhaus verbunden worden war, hielten sie ihn eine Woche lang fest. Der Verband wurde nicht gewechselt. Ich rief den Wachmann: „Ferhat hat Schmerzen, seine Wunde ist entzündet und geschwollen. Er muss ins Krankenhaus.“ „Es gibt hier keinen Kommandanten“, erwiderte der Wachmann.

Ich bat um Schmerzmittel, aber es gab keine. Er stöhnte und lag dort bis zum Morgen. Morgens rief ich erneut den Wachmann. Dann kam der Direktor des Gefängnisses, ein Oberfeldwebel. Ich erklärte ihm die Situation. Gegen Mittag brachten sie ihn aus der Zelle. Er lächelte, als er die Zelle verließ. Ich umarmte ihn: „Pass auf Dich auf, es wird Dir gut gehen.“ Er dankte mir. Ich habe Ferhat nicht wieder gesehen.

Ich trug keine Uniform und hatte keine Rasur erhalten. Als zivile Person unterstand ich nicht der militärischen Ordnung. Sie hatten kein Recht dazu, mich zu zwingen. Die Türkei hatte die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet wie auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Beide Konventionen garantieren die Gewissens- und Meinungsfreiheit und verbieten Misshandlungen. Die Türkei hält die Verträge jedoch nicht ein.

Ich sollte gezwungen werden, militärischen Befehlen nachzukommen. Als ich mich weigerte, wurde ich geschlagen und beleidigt. Ich wurde vier Mal verhaftet und jedes Mal wieder freigelassen. Jedes Mal wurde ich nach meiner Freilassung erneut in die Kaserne überstellt. Insgesamt verbrachte ich 18 Monate im Militärgefängnis.

Vor mir war es Osman Murat Ülke und Mehmet Bal ähnlich ergangen. Nach mir wurden Mehmet Tarhan, İnan Süver, Enver Aydemir und andere Kriegsdienstverweigerer einer ähnlichen Behandlung unterzogen.

Türkische Streitkräfte werden zur Berufsarmee

Die Transformation der Armee zu einer Berufsarmee hat an Fahrt gewonnen. Dies ist eine neue Situation. Der Staat plant die Professionalisierung der Armee.

Im neoliberalen Westen gibt es schon lange eine Geschichte von Berufsarmeen. Inzwischen haben fast alle diese Länder die Armee professionalisiert. Eine Gesellschaft, die dem Neoliberalismus und seinen Werten verpflichtet ist, entwickelt diese Form des Militärs. Wettbewerb, Markt und Individualismus stehen im Vordergrund. Dort findet nun eine andere Form der Rekrutierung von Soldaten statt. Für die türkische Armee stellt dies jedoch eine neue Entwicklung dar.

Zwei Beispiele sind bemerkenswert:

1. Schweden: Die schwedische Armee versteht sich als Friedens- und Hilfstruppe. Ziel ist es, in Krisen und Kriegsgebieten Frieden zu schaffen und Lösungen zu bringen. Wer sich der Armee anschließt, soll also dabei helfen, Krisen zu lösen und Frieden zu bringen.

2. England: Hier wird einer Person, die zur Armee geht, versprochen, Führungsqualitäten zu entwickeln sowie die Fähigkeit, Waffen zu benutzen und Abenteuer zu erleben.

In beiden Fällen vermarktet sich das Militär wie ein Unternehmen. Es sagt den Menschen: Sie haben die Freiheit zu wählen und Sie sind es, die entscheiden. Dadurch nimmt die Verantwortung des Staates und der Gesellschaft gegenüber den Angehörigen des Militärs ab. Jetzt sind Sie wie ein Angestellter einer Firma. Es ist Ihre eigene Entscheidung, zum Militär zu gehen. Im Militär aufgenommen zu werden, ist wie eine Belohnung: „Sei ein Teil der Gemeinschaft und fühle Dich zugehörig.“

In beiden Ländern wird vor allem in ärmeren Regionen rekrutiert. Armut ist gleichbedeutend mit einem Ausschluss aus der Gesellschaft. Der Weg über das Militär wird aufgezeigt als ein Weg zur Teilhabe an der Gesellschaft: „Komm zu uns, halte Dich von Banden, Alkohol und Drogen fern, sei ein Teil der Community und fühle, wohin du gehörst.“

Wenn die Türkei heute die Zwangsrekrutierung zur Verteidigung der Heimat aufheben sollte, wird dies die Zukunft unvermeidlich verändern. In einer professionalisierten Armee sind die Armen die Zielgruppe für eine Rekrutierung, wie in den beiden genannten Beispielen.

Aber noch immer ist der Militärdienst eine lästige Pflicht. So ist weiterhin eine Kampagne gegen das Militär von großer Bedeutung. Entmilitarisierung und Frieden können ohne antimilitaristische Kampagnen nicht erreicht werden. Auch wenn weltweit die Zahl der Soldaten abnimmt, die Rüstungsindustrie wird größer und tödlicher. In dieser Hinsicht sind eine antimilitaristische Haltung und die Praxis der Kriegsdienstverweigerung auch darüber hinaus wertvoll.

Halil Savda: Meine Erfahrungen in der Kaserne. 15. Mai 2021. Der Beitrag erschien in der Broschüre "Kriegsdienstverweigerung in der Türkei", Mai 2021. Hrsg.: Connection e.V., War Resisters International und Union Pacifiste de France

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