Halil Savda

Halil Savda

Meine Mutter verbrannte aus Angst die Solidaritätsbriefe

Bericht einer Hausdurchsuchung in der Nähe von Cizre, Türkei

von Halil Savda

(02.06.2017) Zwei graugrüne Autos ... Beide sind gepanzert. Aus dem Auto kommen in khaki gekleidete Männer die Straße im Ort entlang. Rechts von der Moschee, direkt beim Auto, ist ein kleines Geschäft. Sie rennen, einer nach dem anderen, mit ihren Maschinengewehren die Straße entlang.
Almira und Menessa sehen sie aus dem Auto springen. Almira ist drei, Menesse fünf Jahre alt. Sie hören auf zu spielen.
Die Männer umstellen das Haus.
Menessa nimmt Almira an die Hand und geht mit ihr schnell unter den Granatapfelbaum, zwischen dem Haus und den Ställen. Sie halten sich am Stamm des Baumes fest.
Mit ihren Maschinengewehren erklimmen die Männer mit schnellen und harten Schritten die Stufen zum Haus. Der Anführer fragt: „Wo ist Halil Savda?“. Nachdem er als Antwort „Er ist nicht zu Hause“ erhalten hat, sagt er zu den anderen Soldaten: „Schaut überall nach“. Sie tun es, im Haus, in der Scheune, im Keller, in allen Räumen...
Als sie mich nicht finden können, beginnen sie nach belastendem Material zu suchen. Hunderte von Briefen untersuchen sie einen nach dem anderen. Erst macht das keinen Sinn für sie. Dann schauen sie genauer hin und sehen, dass sie alle in anderen Sprachen verfasst sind.
Sie rufen einen Mann zu sich, der englisch lesen kann. Aber sie können einige Briefe nicht lesen, es gibt auch welche in Hebräisch, Französisch, Spanisch und Arabisch. Zweieinhalb Stunden durchsuchen sie das Haus und schauen Briefe und Postkarten durch.
Sie nehmen meine Fotos mit, einige Solidaritätsbriefe und Berichte von Amnesty International, War Resisters‘ International, dem UN-Menschenrechtskomitee und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Nach allem ist es immerhin gut, dass sie Tausende von Briefen und Postkarten nicht finden, die als Solidaritätsschreiben über Amnesty International an mich gegangen sind. Ansonsten, so meine Mutter, „wären sie nicht vor Einbruch der Nacht gegangen“.
Ich telefonierte mit ihr. „Sie wollen Dich mitnehmen“, sagte sie und ergänzte: „Bitte sei vorsichtig! Ich habe alle Briefe verbrannt, die sie nicht gefunden haben.“ - „Aber warum?“ frage ich.
„Falls sie noch einmal wiederkommen. Die Kinder haben große Angst. Sie würden den ganzen Tag hierbleiben, wenn sie diese Briefe sähen.“
Eine Oma wurde dazu gezwungen, meine schönen Briefe zu verbrennen, damit diese grob aussehenden Männer in langen schwarzen Stiefeln nicht noch einmal ihre Enkel verängstigen. Entschuldigt Freunde.
Die Mädchen warteten die ganze Zeit unter dem blühenden Granatapfelbaum. Ihre Mutter suchte sie. „Ich fand sie unter dem Baum, wie sie sich gegenseitig im Arm und am Baum festhielten.“ Vier kleine Hände bekamen Kraft durch die anderen und den Granatapfelbaum. Was haben Almira und Menessa all die Minuten gedacht? Meine Lieben.
Ihr Onkel ist Soldat, weil er wehrpflichtig ist. Wenn Menessa ein Militärfahrzeug sah, sagte sie: „Schau, das Auto von meinem Onkel.“ Almira hat in den letzten Wochen den Fahrzeugen zugewunken. Jetzt hatte sie Angst vor den Männern, die die gleiche Uniform trugen, wie ihr Onkel und das gleiche Auto fuhren.
In der Anordnung, mein Haus zu durchsuchen, steht: „Die Untersuchung wird angeordnet aufgrund des Verdachts der Migliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation.“ Die Staatsanwaltschaft Cizre verdächtigt mich also, Mitglied einer „bewaffneten terroristischen Organisation“ zu sein. Habt ein Herz...
Ich bin gegen alle Formen von Gewalt und alle Arten von Waffen, aber sie wollen mich zu einem Mitglied einer bewaffneten Organisation machen. Das hat nichts mit der Realität zu tun.
Sie suchten bei mir nach belastendem Material, aber sie fanden nicht das, was sie sich erhofften. Zwei Tage später gaben sie Fotos, Briefe und Berichte an meinen Anwalt zurück. Die Anklage der Staatsanwaltschaft lag uns bald vor. Sie bezieht sich auf Artikel, die ich für die Tageszeitung Yeni Özgür Politika und einige Internetseiten geschrieben hatte, auf Pressemitteilungen und Aktivitäten, mit denen ich mich für die allgemeinen Rechte eingesetzt habe.
Was mache ich jetzt? 170 Journalisten sind im Gefängnis und nahezu alle Anklagen aus dem Jahr 2017 bestehen aus ähnlichen Vorwürfen. Dagegen anzuschreiben ist in höchstem Maße berechtigt. Für die allgemeinen Rechte zu streiten ist in höchstem Maße berechtigt. Eigensinnig gegenüber einem Tyrannen zu sein: Ich werde weiter schreiben, nach Worten suchen, Worte erschaffen und die allgemeinen Rechte verlangen. So wird sich die Akte der Staatsanwaltschaft weiter füllen.

Halil Savda: ‘Bulamadıkları o mektupları yaktım...’ 2. Juni 2017. Übersetzung aus dem Englischen: rf. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2017.

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