Kunstobjekt in Istanbuler Café

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Türkei: Friedensperspektiven von unten

Interview mit Mert Sem und Pinar U.

(10.08.2018) Das folgende Interview mit zwei Aktivist*innen aus der Türkei wurde Anfang August 2018 geführt von Christine Schweitzer (CS) vom Bund für Soziale Verteidigung (BSV, www.soziale-verteidigung.de). Es entstand im Rahmen des Besuchs der internationalen Arbeitsgruppe “Stoppt den Kreislauf der Gewalt“ in der Türkei. Dieser Gruppe, die von den War Resisters‘ International koordiniert wird, gehören u.a. auch Connection e.V., der österreichische Zweig des Versöhnungsbunds und der BSV an.

Wir konnten im Frühjahr sehen, dass die Zivilgesellschaft trotz der Repression Proteste und andere Aktivitäten fortsetzt. Was sind die Hauptanliegen, für oder gegen die sich Menschen einsetzen? Was ist noch möglich, wie eng ist der Raum für die Zivilgesellschaft gegenwärtig?

Mert Sem: Das Regime ist besonders seit den Gezi-Park-Protesten 2013 immer autoritärer geworden. Ich will damit nicht sagen, dass die Regierung nicht schon zuvor auch autoritäre Strukturen gehabt hat, aber die Reaktion auf die Gezi-Park-Proteste machte sie deutlich sichtbar – nicht nur in den Augen der Öffentlichkeit in der Türkei, sondern auch auf internationaler Ebene. Das Ende des Friedensprozesses zwischen dem türkischen Militär und der kurdischen Guerilla im Sommer 2015, die folgenden Militäroperationen in kurdischen Städten, der versuchte Militärputsch am 15. Juli 2016, dem der lange Ausnahmezustand folgte, das Anwachsen des Nationalismus‘, der durch die neuen Militäroperationen in Syrien befeuert wurde – insbesondere die Operation „Olivenzweig“ -, das Referendum im April 2017 und die letzten Wahlen im Juni 2018, die Erdoğans Ein-Mann-Regime extrem gestärkt haben – das alles macht es für Friedens- und Menschenrechtsaktivist*innen in der Türkei extrem schwierig.

Pinar U.: Gleich nach dem Putschversuch im Juli 2016, der angeblich von der Gülen-Bewegung ausging, hat die Regierung durch einen Erlass den Ausnahmezustand verhängt. Seitdem werden Gesetze durch Regierungsdekrete verkündet. Die meisten grundlegenden Freiheiten sind durch die im Ausnahmezustand verhängten Dekrete eingeschränkt.

Menschenrechtsverletzungen sind seit dem Putschversuch 2016 stark angestiegen. Nach dem Bericht des Menschenrechtsvereins1 wurden 2017 33 Menschen (angeblich „aus Versehen“) durch Sicherheitskräfte erschossen, 2.600 Personen wurden auf die ein oder andere Art und Weise misshandelt. Neben körperlicher Misshandlung sind verschiedene psychische Formen der Misshandlung weit verbreitet,  z.B. durch Haftbedingungen, der Länge der Inhaftierung und ungerechtfertigte Disziplinarmaßnamen.

In dem Bericht wird auch ausgeführt, dass 115.000 Beamt*innen im Jahr 2017 durch Dekrete der Regierung entlassen wurden. Eine solche Entlassung  kann als ziviler Tod bezeichnet werden, da die/der Betroffene weder im öffentlichen noch im privaten Sektor eine Arbeit finden kann und von den Leistungen des Sozialsystems ausgeschlossen ist. Auch Angehörige der Betroffenen werden ähnlichen Entlassungsverfahren und dem Ausschluss aus dem Sozialsystem unterworfen. Zusätzlich gibt es strafrechtliche Ermittlungen und Strafverfahren gegen sie.

Frieden zu unterstützen, ist ein Verbrechen geworden. 1.128 Akademiker*innen, die eine Petition unterzeichnet hatten, in der die türkische Intervention in Rojava (Syrien) kritisiert und Frieden eingefordert wurde, wurden per Regierungsdekret aus den Universitäten entlassen. Einige von ihnen wurden unter der Anklage, eine terroristische Organisation unterstützt zu haben, zu Haftstrafen verurteilt; 148 Prozesse laufen noch.

2017 wurden mehr als 1.600 Organisationen der Zivilgesellschaft per Regierungsdekret geschlossen – in der Regel ohne Begründung. 

Dies schafft eine Atmosphäre, in der Menschen Angst haben, aktiv zu werden. Auf der anderen Seite gibt es viele Initiativen, die immer noch aktiv sind und die versuchen, den begrenzten Raum zu nutzen. Gruppen, die Rechtsansprüche für Menschen im Land zu bewahren suchen, sind sehr damit beschäftigt, den Betroffenen zu helfen, zu überleben, und die Verfahren zu begleiten. Einige Organisationen, die bislang keinen Bedrohungen durch die Regierung ausgesetzt waren, können in ihren Bereichen weiterarbeiten. Nur sehr wenige Initiativen, wie die Akademiker*innen für den Frieden, arbeiten auf nationaler und internationaler Ebene.

Mert Sem: Das ist richtig. Die Repression ist nicht alles! Ein vollständiges Bild muss den noch bestehenden Widerstand mit einschließen, der  kaum in den zumeist von der Regierung kontrollierten Medien  zu finden ist.

Es ist nicht einfach, eine Zahl von Themen zu benennen, da sehr unterschiedliche Gruppen zu den verschiedensten Themen arbeiten. Ihre Arbeitssituation ist viel härter und herausfordernder als zuvor. Sie sehen sich viel höheren Risiken ausgesetzt, aber niemand kapituliert einfach vor dem Autoritarismus in der Türkei:

Organisationen wie der Menschenrechtsverein (İHD) und die Menschenrechtsstiftung (TİHV) sind zwei Beispiele für Gruppen, die ihre Arbeit trotz der steigenden Risiken fortsetzen.

Wer den Nachrichten in der Türkei folgte, hörte davon, dass im Juni LGBTQ-Aktivist*innen2 in Istanbul auf die Straße gingen, trotz eines erwarteten Polizeieinsatzes gegen diese friedliche Versammlung. Es waren nicht wie 2014 hunderttausend Menschen dort, aber immerhin kamen Tausende zusammen, um Gerechtigkeit für die LGBTQ-Gemeinschaft im Land einzufordern. Und auch in anderen Städten im Land gab es Gay Pride Paraden der LGBTQ-Gemeinschaft, obwohl die Behörden vor Ort das verboten hatten. Auch Umweltgruppen sind in verschiedenen Orten aktiv.

Und es gibt einen Widerstand auf Graswurzelebene gegen umweltschädliche Bauvorhaben, besonders im Energiebereich.

Das sind nur einige Beispiele und ich will damit nicht sagen, dass dies die Hauptthemen sind. Mein Punkt ist vielmehr, dass die Menschen trotz der fortdauernden Repressionen noch nicht aufgegeben haben! Es gibt weiter Widerstand und wir müssen diese abweichenden Stimmen zu Gehör bringen und ihnen unsere Solidarität zeigen.

Ein Hauptthema, das die verschiedenen Anliegen verbindet, ob sie sich nun explizit gegen die Regierung stellen oder nicht, ist das Streben nach Gerechtigkeit. Es gibt Gelegenheiten, so wie den „Marsch für Gerechtigkeit“ des Parteichefs der wichtigsten Oppositionspartei im Sommer 2017, wo Millionen Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenkommen. Ich denke, dass bestimmte grundlegende Themen, wie Gerechtigkeit und Rechtsstaat, die als Widerstand gegen die derzeit bestehende Ein-Mann-Herrschaft verstanden werden müssen, solch ein grundlegendes Thema sind.

Es scheint, dass die Beziehung zwischen der Türkei und den Kurd*innen ein Kern der Gewalt und der Kriege sind, in die die Türkei involviert ist. Welche Rolle spielt dieser Konflikt für türkische Aktivist*innen außerhalb der betroffenen Regionen?

Pinar U.: Die politische Atmosphäre in der Türkei nur aus der Perspektive des kurdischen Problems zu definieren, wäre irreführend. Die Gewalt in den kurdischen Regionen der Türkei und die Intervention der türkischen Armee in Rojava sind Teile einer fortgesetzten Politik des türkischen Staates gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei und in den angrenzenden Staaten.

Seit dem Scheitern des Friedensprozesses im Jahr 2015 gibt es unterschiedliche Zeiten, Dauer, Orte und Schwere der Militäroperationen gegenüber Kurd*innen und kurdischen Siedlungen, je nach den kurz- und langfristigen Zielen der Innenpolitik und je nachdem, wie die Regierung die Bevölkerung zu manipulieren sucht.

Aber natürlich betrifft es auch Aktivist*innen in der Westtürkei. Es ist leicht, als „Terrorist*in“ bezeichnet zu werden und ins Visier der Sicherheitsbehörden zu geraten, wenn man Frieden fordert oder den Tod von Zivilpersonen während der Militäroperationen kritisiert. Man kann leicht wegen einer Pressemitteilung oder einem Kommentar in den sozialen Medien eingesperrt werden. Aber es ist schwierig, einzuschätzen, was zu Verfolgung führt. Zum Beispiel hat gegen die Operation in Afrin ein Bündnis von mehr als 30 Organisationen protestiert – keine von ihnen hatte Probleme, aber einige einzelne Aktivist*innen, die den Aufruf in den sozialen Medien geteilt hatten, wurden verhört.

Mert Sem: Wachsender Militarismus und Nationalismus befeuern den Autoritarismus im Land. Ohne eine unabhängige Justiz können Dissident*innen leicht wegen Unterstützung terroristischer Organisationen angeklagt werden, ohne dass sie notwendigerweise etwas mit ihnen zu tun haben. Es ist immer von „Feinden“ die Rede, im Innern und im Ausland, die sich gegen die Türkei verschwören. Damit werden „Sicherheit“, „Stabilität“ und eine „starke Führung“ hervorgehoben, die durch Erdoğan repräsentiert werden. Das ist eine sehr schwierige Atmosphäre für Menschenrechtsverteidiger*innen und Friedensaktivist*innen.

Das Wort „Frieden“ zum Beispiel war in der Türkei wegen der Jahrzehnte des bewaffneten Konflikts in der Südosttürkei schon politisiert. Aber es war noch nie so „kriminalisiert“ wie heute, besonders seit der Militäroperation in Afrin. Unterstützung des Friedens und Widerstand gegen Krieg kann jetzt durch die Anhänger*innen der Regierung leicht in Beziehung gesetzt werden mit der Unterstützung von Terrorismus. Ein Beispiel war die Verhaftung der Vorstandsmitglieder der Türkischen Ärztekammer. Sie wurden nach einer Presseerklärung verhaftet, mit der sie sich gegen die Militäroperationen in Afrin gewandt hatten. Ihre Verhaftung erfolgte aufgrund ihrer Aussage, dass „Krieg von Bedeutung für die öffentliche Gesundheit“ ist und sie sich daher gegen die Militäroperationen wenden. Dies hat viele andere eingeschüchtert. Ich weiß, dass einige andere Gruppen und Organisationen nach ihrer Festnahme öffentliche Äußerungen vermieden haben, die die Behörden direkt herausgefordert hätten, auch wenn sie ebenso gegen den Krieg waren.

Pinar U.: Was die Leute oder Gruppen nun machen, um weiterzuarbeiten: Entweder zensieren sie ihre Aktionen, Texte und Diskussionen oder sie versuchen, andere Wege zu finden, z.B. den Namen einer Konferenz zu ändern und den Begriff  „Konfliktlösung“ statt „Frieden“ benutzen.

Was könnten wesentliche Elemente einer türkischen Politik sein, die zu einem echten Friedensprozess mit ihrer kurdischen Bevölkerung führen?

Pinar U.: Wir hatten einen Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und Abdullah Öcalan zwischen 2013 und 2015. Es gab große Hoffnung, dass der Prozess mit einer Vereinbarung abgeschlossen werden könnte. Alle glaubten, dass Frieden beinahe erreicht sei. Die Bevölkerung sah, dass es wirklich möglich wäre.

Die Lehre daraus: Es ist entscheidend, dass die Parteien einen Frieden wirklich wollen. Gegenseitiges Vertrauen und Offenheit müssen auch Elemente eines Friedensprozesses sein.

Mert Sem: Es ist traurig, dass wir nach so vielen Jahren wieder am Ausgangspunkt angelangt sind – es wird wie zuvor vom Staat behauptet, dass es „keine kurdische Frage“ gebe. Erdoğan erhielt in den ersten Jahren seiner Regierungszeit Zuspruch aus der kurdischen Bevölkerung, nur weil er diesen Diskurs infrage stellte und die Sache als das benannte, was sie ist. Seine Regierung hatte behauptet, Frieden im Land aufbauen zu können. Aber seit dem Ende des Friedensprozesses nach den Wahlen im Juni 2015 wird die kurdische Frage erneut nur unter dem Blickwinkel sicherheitspolitischer und militärischer Lösungen thematisiert. Erdoğan verbündet sich nun mit konservativen Nationalist*innen, vertreten durch die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und die Partei der Großen Einheit (BBP), deren Ansatz sich strikt auf Militär und militärische Methoden beschränkt.

Es wäre nicht falsch zu sagen, dass die Hoffnung der kurdischen Bevölkerung auf Frieden nach dem Ende des Friedensprozesses 2015 schwer enttäuscht wurde. Die nachfolgenden Militäroperationen und gewaltsamen bewaffneten Konflikte in den kurdischen Städten, die über Monate dauernden Ausgangssperren wie auch der steigende Nationalismus im Westen des Landes, haben zu einer immensen Frustration auf Seite der kurdischen Bevölkerung geführt – wie auch bei denen, die den Frieden im Land unterstützen. Da wir nun wieder an dem Punkt stehen, an dem wir waren – oder vielleicht ist es sogar schlimmer – müssen wir erneut bei den grundlegenden Fragen anfangen.

Erdoğan behauptete bei seinen Kundgebungen in der letzten Wahlkampagne in diesem Frühjahr, dass die kurdische Frage nun gelöst sei. Ich denke, wir müssen die türkische Öffentlichkeit daran erinnern, dass nichts gelöst wurde und die Notwendigkeit bleibt, einen echten Frieden zu schaffen.

Während der Wahlkampagne nahmen tausende Menschen an der Veranstaltung des Kandidaten der Republikanischen Volkspartei (CHP), Muharrem İnce, in Diyarbakır teil. Das ist sehr ungewöhnlich, denn die CHP ist in dieser Region traditionell sehr schwach, weil sie für den offiziellen türkischen Nationalismus steht. Aber dieses Mal war es anders, weil İnce versprach, sich für Frieden einzusetzen und damit akzeptierte, dass es ein weiterhin bestehendes Problem gibt. Seine Vorschläge waren sehr vage und sein Diskurs verließ nicht völlig das Paradigma der Sicherheit. Aber seine Betonung der demokratischen Prinzipien und sein Ruf nach Frieden wurden in der Region begeistert aufgenommen. Die Mehrheit wählte trotzdem die HDP, die [vorwiegend kurdische] Demokratische Partei der Völker, aber viele sagten, dass sie die CHP wählen würden, wenn es zu einer Stichwahl kommen würde. Das zeigt meines Erachtens, dass die kurdische Bevölkerung trotz aller Frustration immer noch bereit ist, Friedensperspektiven aufzunehmen. Es ist auch wichtig anzumerken, dass İnce auch im Westen des Landes massive Unterstützung erhielt, mit demselben Diskurs. Ich denke, wir können dies nicht ignorieren, sondern wir müssen daran arbeiten, die Hoffnung am Leben zu erhalten.

Erdoğan und seine Regierung kriminalisieren die HDP und ihre Unterstützer*innen weiterhin, indem sie sich nun ausschließlich auf militärische Lösungen konzentrieren. Dies ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass das Verständnis der Regierung streng begrenzt ist auf militärisches Vorgehen. Die Ausgrenzung und Kriminalisierung der HDP kann jedoch keine Option sein, wenn ein echter und dauerhafter Frieden erreicht werden soll.

Wenn wir erneut zurückblicken auf die Wahl: Eine hoffnungsvolle Entwicklung war, dass sich viele CHP-Wähler*innen der letzten Wahlen dieses Mal für die HDP entschieden haben. Ihre Absicht war, sicherzustellen, dass die HDP die 10%-Hürde überspringt und ins Parlament kommt. Aber es zeigt auch, dass der Diskurs, mit dem die HDP kriminalisiert wird, bei vielen anderen Wähler*innen, die traditionell nationalistische Parteien unterstützen, nicht verfängt. Wir müssen daran arbeiten, diese Basis der Interaktion zwischen den Oppositionsparteien zu vergrößern, sie zu pflegen und zu verbessern.

Gewaltfreiheit ist ein Konzept, das in der Türkei nicht viele Anhänger*innen hat. Das gilt auch für große Teile der Opposition. Der Glaube an den bewaffneten Kampf ist weit verbreitet. Wo können gewaltfreie Ansätze gefunden werden, spielt Gewaltfreiheit in den gegenwärtigen Bewegungen eine Rolle und gibt es gewaltfreie Projekte oder Programme?

Pinar U.: Das ist richtig, Gewaltfreiheit ist kein Konzept im politischen Umfeld. Bewaffnete (Befreiungs- oder andere) Kämpfe stehen im Vordergrund, wenn von politischem Wandel geredet wird. Andererseits gibt es eine leichte Veränderung seit etwa zehn Jahren: Zum Beispiel haben linke Gruppen, die den bewaffneten Kampf unterstützen, politische Parteien gegründet, obwohl dies zuvor als eine zu liberale Politik angesehen wurde. Viele dieser Parteien gingen auch Koalitionen mit der HDP ein, um Sitze im Parlament zu bekommen.

Im Parlament zu sein, bedeutet für sie natürlich nicht, ihre Perspektive eines bewaffneten Kampfes aufzugeben. Andererseits bietet es die Möglichkeit, sich offen zu organisieren und es bietet auch eine Basis, um Instrumente der Gewaltfreiheit zu nutzen.

Die Gezi-Proteste 2013 waren ein Höhepunkt gewaltfreier Auseinandersetzung. Organisierte wie unorganisierte Menschen kämpften vier Monate mit gewaltfreien Mitteln. Und auch alle politischen Gruppen, ob sie nun für bewaffneten Widerstand sind oder nicht, verwendeten gewaltlose Mittel, ohne dies so zu nennen. Gewaltfreiheit wird als „passiv“ verstanden. Deshalb werden andere Begriffe bevorzugt. Einer der Haupterfolge von Gezi war, zu zeigen, dass gewaltfreie Aktion nicht das ist, was sie denken, sondern eine Macht, um Wandel zu schaffen.

Das Potential von Gewaltfreiheit und gewaltfreiem Handeln existiert in der Gesellschaft, auch wenn sich bei Politik und Aktionen das meiste um Reaktionen dreht und nicht um die Planung von Kampagnen. Die politische Agenda wechselt in der Türkei sehr schnell. Fast alle Gruppen und Initiativen arbeiten daher auf einer ad-hoc-Basis. Dementsprechend ist ein wesentliches Problem darin zu sehen, dass es an Organisationsstrategien und an langfristigen Kampagnen mangelt.

Die einzige Organisation, die sich für strategische Gewaltfreiheit einsetzt, ist das Nonviolent Research and Education Center (Forschungs- und Bildungszentrum für Gewaltfreiheit) in Istanbul. Es organisiert Trainings in gewaltfreier Aktion und Kampagnenplanung, auch wenn es nicht einfach ist, die üblichen Vorgehensweisen zu verändern und neue Herangehensweisen und Praktiken zu entwickeln. Das Center hat auch ein Forschungsprojekt zur Geschichte gewaltfreier Aktionen in der Türkei gestartet. Viele Beispiele sind inzwischen dokumentiert worden.3

Mert Sem: Ich sehe, dass verschiedene Menschenrechtsgruppen gewaltfreie Methoden anwenden, obwohl sie diese nicht notwendigerweise so nennen – aufgrund der vor allem unter den Linken mit dem Begriff negativ verbundenen Bedeutung. (Gewaltfreiheit wird, kurz ausgedrückt,  als „Nichtstun“ und damit den Unterdrücker indirekt unterstützend verstanden.) Wie Kampagnen und direkte Aktionen aussehen, da kommt mir das Beispiel der LGBTQ-Bewegung in den Sinn. Sie ist bei ihren Kampagnen und gewaltfreien direkten Aktionen als Antwort auf die Repressionen der Regierung sehr kreativ. Ich konnte selbst erleben, wie sehr ihr gewaltfreier Widerstand Kraft geben kann.

Ein Beispiel: Nur zwei Wochen nach der Unterdrückung der Gezi-Park-Proteste versammelten sich Hunderttausend Menschen auf dem Taksim, wo der Protestzug des Gay Pride March begann. Die Menge umfasste nicht nur die LGBTQ, sondern auch Verbündete, die in den vorangegangenen Wochen bei den Gezi-Park-Protesten zusammengekommen waren. Das wiederholte sich 2014, wieder mit einer beeindruckenden Zahl von Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen. Der Gay Pride March ist leider seit 2015 verboten. Das hält die Aktivist*innen jedoch nicht auf. Jedes Jahr gehen sie auf die Straßen – jedes Jahr mit einer anderen kreativen Antwort. Zum Beispiel 2016: Die Polizei verkündete, sie „zerstreuen“ zu wollen. Daraufhin veröffentlichen sie eine Erklärung, in der sie alle aufriefen, sich am Pride-Tag in den Straßen von Istanbul zu „zerstreuen“ und gleichzeitig an den verschiedensten Orten ihre Erklärung zu verlesen. Diese Aktion sorgte für enorm viel öffentliche Aufmerksamkeit, sowohl in der Türkei wie auch im Ausland, trotz des offiziellen Verbots und der Eingriffe der Polizei.

Diese Beispiele machen Mut und erinnern uns alle an die Macht gewaltfreien Widerstands. Und mit der anhaltenden Unterdrückung durch die Regierung wird dies noch wichtiger. Ich denke, wir brauchen mehr Diskussion in der Gemeinschaft der Menschenrechtsverteidiger*innen in der Türkei über gewaltfreie Methoden in unseren Kampagnen und in unserem Widerstand gegen den wachsenden Autoritarismus.

Was könnt Ihr Aktivist*innen in anderen Ländern sagen, wenn sie Euch fragen, was sie tun können, um Euch zu unterstützen?

Mert Sem: Ich empfehle, die Arbeit von Gruppen in der Türkei wie die Menschenrechtsstiftung, den Menschenrechtsverein oder die Akademiker*innen für den Frieden zu verfolgen und auf ihre Aufrufe für Solidarität zu reagieren, wenn sie welche machen. Ich empfehle auch, internationalen Organisationen wie den War Resisters' International und Amnesty International zu folgen, die gelegentlich Unterstützungsaufrufe herausgeben. Es ist wichtig, sich bewusst zu sein, dass es trotz des Drucks Gruppen gibt, die ihren Widerstand fortsetzen. Deren Stimme muss gestärkt werden. Internationale Solidarität ist deshalb sehr wichtig in diesen Zeiten der Repression.

Pinar U.: Wir diskutieren diese Frage seit einiger Zeit mit Freund*innen: Wie können Aktivist*innen im Ausland die Aktivist*innen hier vor Ort unterstützen?

Wir erinnern uns, was in den 1990er Jahren passiert ist, als es weit verbreitete, schwere Menschenrechtsverletzungen gab, und wie der Kampf im Land und die internationale Unterstützung aussahen. Ein wesentliches Element war, so stellten wir fest, dass es hier im Land für die Aktivist*innen eine lokale Basis und organisierte lokale Kämpfe gab. Von diesen Basen aus wurde um internationale Solidarität gebeten, sie hatten die Kapazitäten, die Unterstützung aus dem Ausland zu organisieren. Heute fehlt uns bei vielen Bewegungen dieses Element, bei den Bewegungen für Menschenrechte, Frieden und Antimilitarismus. Da wir keine starke Basis hier im Land haben, ist es nicht leicht, die Themen herauszuarbeiten, für die wir internationale Unterstützung anfordern können.

Auf der anderen Seite gibt es einige Initiativen wie die Akademiker*innen für den Frieden, die LGBTQ-Gruppen und Umweltschutzinitiativen, die zu bestimmten Themen um solch eine internationale Unterstützung bitten.

Auch wenn ich keine bestimmte Art von Unterstützung nennen kann: Wichtig ist, Kontakt zu halten, damit Aktivist*innen in der Türkei wissen, dass sie nicht alleine sind; das Land zu besuchen, verschiedene Gruppen zu treffen, Gerichtsverfahren zu beobachten, Unterstützungsbriefe zu schreiben (wo das sinnvoll ist). All das sind Möglichkeiten.

Herzlichen Dank für das Interview!

Fußnoten

1 http://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2018/05/IHD_2017_report-2.pdf

2 LGBTQ ist eine aus dem englischen Sprachraum kommende Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender und Queer

2 http://www.siddetsizeylem.org/tumu/harita

* Pinar U. und Mert Sem (Pseudonyme) sind Friedens- und Menschenrechtsaktivist*innen aus der Türkei. Das Interview wurde Anfang August 2018 geführt. Übersetzung: Christine Schweitzer (BSV) und Rudi Friedrich (Connection e.V.). Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2018

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