Sofia Orr. Foto: Oren Ziv

Sofia Orr. Foto: Oren Ziv

Israelische Kriegsdienstverweigerin im Gefängnis

„Die Leute sagen, ich sei naiv, antisemitisch und eine Verräterin"

von Oren Ziv

Sofia Orr erklärt, warum sie trotz des harten Vorgehens gegen Kriegsgegner*innen in Israel nie von ihrer Entscheidung abgewichen ist.

Am Sonntagmorgen erschien die 18-jährige israelische Kriegsdienstverweigerin Sofia Orr im Rekrutierungszentrum der Armee in der Nähe von Tel Aviv und erklärte, dass sie sich aus Protest gegen den Krieg Israels gegen den Gazastreifen und die langjährige Besatzung weigere, sich zum Militärdienst zu melden. Sie ist seit dem 7. Oktober die zweite Person, die öffentlich die Einberufung aus politischen Gründen verweigert - nach Tal Mitnick, der dies im Dezember tat. Sofia Orr wurde zu einer ersten 20-tägigen Haftstrafe im Militärgefängnis Neve Tzedek verurteilt, die wahrscheinlich verlängert werden wird, wenn sie sich weiterhin verweigert.

"Die derzeitige Atmosphäre ist viel gewalttätiger, also habe ich natürlich mehr Angst, aber ich denke, dass es in diesen Zeiten besonders wichtig ist, die Stimme zum Widerstand zu erheben", sagte sie letzte Woche in einem Interview mit +972 und Local Call. "Ich weigere mich, weil es im Krieg keine Gewinner*innen gibt. Wir sehen das heute mehr denn je. Alle Menschen, vom Jordan bis zum [Mittelmeer], leiden unter diesem Krieg, und nur Frieden, eine politische Lösung und eine Alternative können zu echter Sicherheit führen."

Orr erklärte, dass sie bereits lange vor Kriegsbeginn beschlossen hatte, ihre Militärdienstpflicht zu verweigern, und zwar wegen "der Besatzung und Unterdrückung, die die Armee gegen die Palästinenser*innen im Westjordanland ausübt". Die von der Hamas angeführten Anschläge vom 7. Oktober, so Orr, "haben uns wieder einmal gezeigt, dass Gewalt nur zu mehr Gewalt führt und dass wir das Problem friedlich lösen müssen und nicht durch noch mehr Gewalt."

Ungefähr 30 linke Aktivist*innen, die meisten von ihnen Jugendliche, begleiteten Orr zum Rekrutierungszentrum. Sie setzten sich für ihre Entscheidung ein, den Dienst zu verweigern, und weckten damit das Interesse mehrerer ultraorthodoxer Jeschiwa-Studenten, die gekommen waren, um sich vom Militärdienst befreien zu lassen.

Tausende israelischer Jugendlicher werden jedes Jahr vor allem aus religiösen Gründen vom Militärdienst befreit, aber nur eine Handvoll erklärt, dass sie politisch gegen den Militärdienst sind. Neben einer möglichen Gefängnisstrafe kann eine Verweigerung die Berufsaussichten schmälern und zu einer sozialen Stigmatisierung führen.

Orr gehörte zu den 230 israelischen Jugendlichen, die Anfang September, also noch vor dem Krieg, einen offenen Brief unterzeichneten, in dem sie ihre Absicht ankündigten, ihren Einberufungsbefehl zu verweigern. Dies ist Teil eines umfassenderen Protests gegen die Bemühungen der rechtsextremen israelischen Regierung, die Macht der Justiz einzuschränken. Die High-School-Schüler*innen, die sich unter dem Slogan "Jugend gegen Diktatur" organisierten, stellten eine Verbindung zwischen der Reform der Justiz und Israels langjähriger Militärherrschaft über die Palästinenser*innen her und erklärten, dass sie nicht in die Armee eintreten würden, "bis die Demokratie für alle, die im Zuständigkeitsbereich der israelischen Regierung leben, gesichert ist".

Angesichts der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit den Angriff der Armee auf den Gazastreifen nach dem 7. Oktober voll und ganz unterstützt und linke Aktivist*innen mit massiver polizeilicher Repression und Verfolgung konfrontiert sind, weil sie gegen den Krieg Stellung bezogen haben, steht für Kriegsdienstverweiger*innen jetzt noch mehr auf dem Spiel. In dem folgenden Interview, das aus Gründen der Länge und Klarheit gekürzt wurde, erklärt Orr, warum sie in ihrer Entscheidung, sich zu verweigern, nie ins Wanken geraten ist.

Wie sind Sie zu der Entscheidung gekommen, den Militärdienst zu verweigern?

Ich habe mich immer mehr den Menschen als den Staaten verpflichtet gefühlt, aber [meine Ablehnung der Militärdienstpflicht] wurde mir klar, als ich etwa 15 war. Ich begann, mir Fragen zu stellen: Wem würde ich mit meinem Militärdienst eigentlich dienen, und welche Ziele würde ich damit unterstützen?

Mir wurde klar, dass ich, wenn ich mich zum Militärdienst meldete, an einem jahrzehntelangen Kreislauf der Gewalt teilnehmen und ihn normalisieren würde. Mir wurde klar, dass ich das nicht nur nicht tun konnte, sondern dass ich alles in meiner Macht Stehende tun musste, um dem ein Ende zu setzen und Widerstand zu leisten.

Indem ich darüber spreche, was der Militärdienst für mich bedeutet, hoffe ich, andere Menschen dazu zu bringen, über ihren Militärdienst nachzudenken und darüber, ob sie glauben, dass er etwas Gutes bewirkt. Ich tue dies mit Empathie, Solidarität und Liebe für alle Israelis, die in Israel leben, und für alle Palästinenser*innen, die im Gazastreifen und im Westjordanland leben, unabhängig von ihrer Nationalität oder Religion - einfach aus der Überzeugung heraus, dass jeder Mensch es verdient, ein Leben in Sicherheit und Würde zu führen.

Sie haben Ihre Meinung in den Jahren gebildet, in denen viele liberale Israelis gegen die Regierung protestierten - bei den Balfour-Protesten in Jerusalem im Jahr 2020 und den Kaplan-Protesten in Tel Aviv im Jahr 2023. Waren Sie in diesen Bewegungen aktiv?

Diese Proteste waren wichtig, aber sie konzentrierten sich nicht auf das, was meiner Meinung nach die Wurzel des Problems ist. Deshalb war es für mich sehr wichtig, dorthin zu gehen und die Diskussion zu erweitern. Die israelische Gesellschaft bemüht sich sehr, die Besatzung und die Palästinenser*innen zu ignorieren, in dem Glauben, dass dieses Problem vorübergehen wird. Aber es geht nicht vorbei, wie wir jetzt sehen. Das Problem verschwindet nicht, nur weil man aufhört, es zu beachten. Es bleibt und wächst weiter, bis es schließlich explodiert.

Wie haben Freund*innen, Familie und Schulkamerad*innen auf Ihre Entscheidung reagiert?

Die meisten Leute halten mich für verrückt und verstehen nicht, wovon ich rede. Sie sagen, ich sei naiv und egoistisch, und manchmal auch, ich sei antisemitisch, eine Verräterin, und sie wünschen mir alle möglichen schrecklichen Dinge. Zum Glück gehört das nicht zu meinem engsten Umfeld, aber ich habe sowohl von Freund*innen als auch von Verwandten Reaktionen erhalten, die nicht einfach waren.

Viel schlimmer wurde es nach dem 7. Oktober mit der Welle der "Desillusionierten" - Menschen, die vor dem 7. Oktober an die Möglichkeit einer [friedlichen politischen] Lösung glaubten und danach die Hoffnung darauf verloren. Aber der 7. Oktober hat nur bewiesen, dass eine politische Lösung notwendig ist, da die Gewalt sonst einfach weitergeht.

In der israelischen Gesellschaft gibt es ein noch nie dagewesenes Verlangen nach Rache. Sehen Sie Ihre Weigerung als einen Versuch, die Öffentlichkeit zu überzeugen, oder als eine deklaratorische Aktion angesichts dieser Welle?

Es ist wichtig für mich, dies zu tun, auch wenn ich niemanden überzeugen kann. Es ist das Richtige, das zu tun. Aber ich weiß nicht, ob ich es öffentlich getan hätte, wenn ich nicht die Hoffnung gehabt hätte, dass die Leute zuhören und zuhören können und dass es noch Raum für Gespräche gibt. Es ist sehr wichtig, die israelische Gesellschaft zu erreichen, vor allem die jungen Leute, die dort stehen, wo ich stehe, und ihnen zu zeigen, warum ich mich für die Verweigerung entschieden habe.

Haben Sie Freund*innen oder Bekannte, die derzeit in Gaza dienen?

Innerhalb von Gaza - nein. Aber ich habe viele Freund*innen, die in der Armee sind oder gedient haben. Ich wünsche mir auch für sie das Beste. Ich möchte, dass der Staat keine Soldat*innen mehr in den Tod schickt. Ich möchte, dass sie ein normales Leben führen können - aber sie sehen das nicht so.

Haben Begegnungen mit Palästinenser*innen zu Ihrer Entscheidung zur Verweigerung beigetragen?

Meine Ansichten waren schon relativ gefestigt, bevor ich anfing, Palästinenser*innen zu treffen, aber das hat geholfen, sie greifbar zu machen: Menschen zu treffen, denen man von klein auf sagt, sie seien unsere Feinde, und zu sehen, dass sie ganz normale Menschen sind wie ich, die ihr Leben genauso leben wollen wie ich. Es gibt ein ernstes Problem der Entmenschlichung, deshalb sind diese Begegnungen wirklich wichtig. In dem Moment, in dem man aufhört zu glauben, dass Palästinenser*innen Menschen sind, ist es viel einfacher, den Gedanken zu verwerfen, dass ihr Leben etwas wert ist, und sie ohne zu überlegen zu töten.

Haben Sie Bedenken, ins Gefängnis zu gehen, vor allem in der derzeitigen Situation?

Ja, ohne jeden Zweifel. Die derzeitige Atmosphäre richtet sich viel gewalttätiger und extremer gegen meine Überzeugungen und meine Entscheidung. Es versteht sich von selbst, dass ich sowohl vor der Gefängnisstrafe als auch vor den Reaktionen von außen Angst habe. Aber genau das macht es für mich auch wichtiger. In diesen Zeiten ist es besonders wichtig, diese Stimme des Widerstands und der Solidarität zu erheben und nicht tatenlos zuzusehen.

Oren Ziv: Israeli teen jailed for draft refusal: ‘People say I’m naive, antisemitic, a traitor’. Magazin +972, 26. Februar 2024. https://www.972mag.com/sofia-orr-conscientious-objector-israeli-army/

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