Nagorny-Karabach, Foto: Timo Vogt

Nagorny-Karabach, Foto: Timo Vogt

Armenien, Aserbaidschan und Nagorny-Karabach: Zu Kriegsdienstverweigerung und Desertion

von Connection e.V.

(01.11.2020) Seit über einem Monat gibt es zwischen Armenien und Aserbaidschan erneut Kämpfe um die Bergregion Nagorny-Karabach. Es wird von mehreren Tausend Opfern gesprochen. Trotz mehrfacher Vereinbarungen über einen Waffenstillstand werden die Kämpfe fortgesetzt.

Bereits 1989 bis 1994 war es zwischen Armenien und Aserbaidschan zu einem Sezessionskrieg um die Bergregion gekommen, den Aserbaidschan verlor. Es wird geschätzt, dass zwischen 1988 und 1994 etwa 16.000 Wehrpflichtige aus Armenien flohen, um dem Kriegseinsatz zu entgehen. Über 30.000 Menschen starben, die Region wurde ethnisch „gesäubert“. Die Region und angrenzende Gebiete Aserbaidschans stehen seitdem unter der Kontrolle Armeniens.

Das international nicht anerkannte Nagorny-Karabach betrachtet sich als eigener Staat und hat eigene Streitkräfte. Kriegsdienstverweigerung wird nicht anerkannt. Kriegsdienstverweigerer werden wegen Befehlsverweigerung verfolgt und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.1 Bekannt geworden ist 2016 der Fall von Artur Avanesyan, der zu 30 Monaten Haft verurteilt worden ist und aufgrund einer allgemeinen Amnestie vier Monate früher aus der Haft entlassen wurde.2

In Armenien gilt die Wehrpflicht für Männer von 18 bis 27 Jahren. Männer haben einen zweijährigen Militärdienst abzuleisten. 2004 verabschiedete das armenische Parlament ein erstes Gesetz über einen Alternativen Dienst für Kriegsdienstverweigerer, der allerdings doppelt so lange dauern sollte wie der Militärdienst und dem Militär unterstellt war. Die Zeugen Jehovahs, die die größte Zahl der Kriegsdienstverweigerer stellten, verweigerten daraufhin auch die Ableistung des Ersatzdienstes. So wurden bis 2013 insgesamt 317 Kriegsdienstverweigerer allein der Zeugen Jehovahs zu Haftstrafen zwischen 24 und 36 Monaten verurteilt.3

Aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte änderte das armenische Parlament 2013 das Gesetz über den Alternativen Dienst und stellte darüber sicher, dass der von nun drei Jahre dauernde Ersatzdienst nicht mehr unter Aufsicht des Militärs steht. Bis dahin inhaftierte Kriegsdienstverweigerer wurden im Lauf des Jahres 2013 aus der Haft entlassen.4

Das armenische Parlament beschloss am 28. Oktober 2020 eine drastische Erhöhung der Haftstrafen bei Militärdienstentziehung oder Desertion im Kriegsfall.

Bei Nichtbefolgung der Einberufung oder Mobilisierung in Kriegszeiten ist nun eine Haftstrafe von sechs bis zwölf Jahren möglich. Zuvor war diese Straftat mit vier bis acht Jahren Haft bewehrt.

Militärdienstentziehung unter Kriegsrecht oder Nichtzahlung der Steuer während eines Krieges kann mit einer Haftstrafe von eins bis fünf Jahren verfolgt werden. Zuvor waren es bis zu vier Jahre.

Desertion unter Kriegsrecht oder aus dem Kampfgebiet soll nun mit acht bis 15 Jahren Haft verfolgt werden, statt sechs bis zwölf Jahren.5

Die Meldung des aserbaidschanischen Verteidigungsministers, dass es Chaos und Massendesertionen auf armenischer Seite gäbe, ist allerdings vermutlich Teil der Propaganda Aserbaidschans, um zu zeigen, wie erfolgreich die eigenen Streitkräfte im Krieg sind.6 Die Nachrichtenagentur gibt unter der Meldung auch gleich den Hinweis, dass sie keine Garantie für die Richtigkeit der Informationen gibt. Die deutliche Verschärfung der Strafverfolgung deutet aber darauf hin, dass es tatsächlich Militärdienstentziehungen und Desertionen in Armenien gibt.

In Aserbaidschan sind alle männlichen Bürger zwischen 18 und 35 Jahren verpflichtet, den Militärdienst von einer Länge von 12 bis 18 Monaten abzuleisten. Mit dem Beitritt zum Europarat wurde in Aserbaidschan 2002 in der Verfassung das Recht verankert, einen alternativen Dienst abzuleisten. Es wurde jedoch kein Ausführungsgesetz verabschiedet. Aufgrund dessen werden Kriegsdienstverweigerer weiter verfolgt.7

Im Oktober 2019 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Aserbaidschan im Falle eines Kriegsdienstverweigerers verurteilt und eine Verletzung des Artikels 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) festgestellt. Der Kläger Farid Mammadov war 2010 zu neun Monaten Haft verurteilt worden.8

Anfang 2020 gab es Hinweise, dass die aserbaidschanische Regierung tatsächlich ein Gesetz über einen Alternativdienst vorbereite. Details darüber sind bislang nicht bekannt geworden.9 Es ist davon auszugehen, dass mit dem erneuten Krieg um Nagorny-Karabach und der nationalistischen Kriegsbegeisterung in Aserbaidschan diese Ansätze nicht weiter verfolgt werden.

Zu Beginn des Krieges gab Foreign Policy den Hinweis, dass die aserbaidschanische Armee eine Desertionsrate von annähernd 20% habe.10

Fußnoten

1 https://de.connection-ev.org/article-1445

2 https://de.connection-ev.org/article-2379

3 Jehovah’s Witnesses: How Armenia Came to Recognize the Right to Conscientious Objection. 15. Februar 2018, https://www.jw.org/en/news/legal/by-region/armenia/recognize-right-to-conscientious-objection/

4 https://de.connection-ev.org/article-1912

5 News.am vom 18.10.2020: Armenia to tighten punishments for certain acts during war. https://news.am/eng/news/610270.html

6 MENAFN: Azerbaijan’s MoD notes chaos, mass desertion in Armenian army. 30.10.2020. https://menafn.com/1101042489/Azerbaijans-MoD-notes-chaos-mass-desertion-in-Armenian-army

7 https://de.connection-ev.org/article-1445; EBCO: Annual Report Conscientious Objection to Military Service in Europe 2019, 14. Februar 2020, https://ebco-beoc.org/sites/ebco-beoc.org/files/attachments/2020-02-14-EBCO%20_Annual_Report_2019.pdf

8 https://de.connection-ev.org/article:aserbaidschan-wird-das-regime-einen-alternativen-dienst-einfuehren

9 ebd.

10 James Palmer: Why Are Armenia and Azerbaijan Heading to War? 28. September 2020, https://foreignpolicy.com/2020/09/28/why-are-armenia-azerbaijan-heading-to-war-nagorno-karabakh/

Connection e.V.:Armenien, Aserbaidschan und Nagorny-Karabach -Zu Kriegsdienstverweigerung und Desertion. 1. November 2020. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2020

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