kein Krieg mit der Ukraine. Foto: Pavljenko

kein Krieg mit der Ukraine. Foto: Pavljenko

Antikriegs-Proteste in Russland im Frühjahr 2022

von Russische Pazifist*innen

Wir haben diesen sehr bemerkenswerten und aufschlussreichen Hintergrundbericht, den Peace News auf Englisch veröffentlichte, für deutschsprachige Leser*innen übersetzt. Er zeigt, wie zehntausende Russ*innen sich für Frieden mit der Ukraine einsetzen und der Repression des Kreml in Moskau widerstehen. (d. Red.)

Als Russland am 24. Februar frühmorgens mit der Invasion der Ukraine begann, waren viele russische Bürger*innen schockiert, als sie herausfanden, was gerade passiert war. Denn unter den […] Kritiker*innen einer solchen Invasion war eine weitverbreitete Meinung, dass Putins Bedrohung des Westens mit einem groß angelegten Krieg lediglich ein Bluff war. Die Gegner*innen der Invasion hatten sich geirrt.

Bis 2022 war die Massen-Oppositionsbewegung in Russland weitestgehend zerstört worden, so dass nicht mehr viele einflussreiche politische Kräfte übrig waren, die die Russ*innen zu Protesten gegen die Invasion aufrufen konnten. An jenem Morgen forderte die Menschenrechts-Aktivistin Marina Litvinovich Bürger*innen auf, sich zu einer bestimmten Zeit auf dem Puschkin-Platz zu versammeln. Litvinovich war 2021 die Kandidatur für die Staatsduma verweigert […] worden und nach ihrem Protestaufruf am 24. Februar wurde sie kurz darauf verhaftet, als sie ihr Haus verließ. So wie sie hatten an diesem Tag Aktive in Städten in ganz Russland gleichzeitig Proteste angekündigt.

Die Proteste am ersten Kriegstag scheinen die höchsten Teilnehmerzahlen gehabt zu haben. Manche Schätzungen gehen von 2.000 Protestierenden in Moskau und 1.000 in Sankt Petersburg aus; unseren eigenen Schätzungen zufolge sind diese Zahlen zu niedrig angesetzt. Denn allein mehr als 2.000 Protestierende wurden in ganz Russland verhaftet. Diese Anzahl Verhafteter könnte manchem nicht als hoch erscheinen, sie ist es aber für Russland, ein Staat in dem Protestierende seit mehr als zehn Jahren eingeschüchtert wurden und Versammlungsgesetze immer weiter eingeschränkt worden sind. Es ist auch wichtig, dass diese ersten Aktionen spontan waren: Litvinovich ist nur in einem beschränkten Kreis in Moskau einflussreich, sie hatte keinen Zugang zu Fernsehen oder großen Medienanstalten und ihr Appell verbreitete sich nur über retweets auf social media und persönliche Kontakte.

Nach dem 24. Februar gingen die Proteste täglich weiter, doch schließlich wurden die Mengen der Teilnehmenden immer geringer und die öffentlichen Versammlungen hörten auf. Dagegen stieg die Zahl der Verhafteten. Am 6. März versammelten sich nach Aufruf der Oppositionsbewegung Sozialistische Alternative und anderer Aktiver tausende Menschen im ganzen Land, von denen 5000 verhaftet wurden. Dies ist die höchste Zahl von Verhaftungen an einem einzigen Tag seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als es Anfang der 1990 Jahre ebenfalls zu Massenprotesten russischer Bürger*innen gekommen war.

Brutale Repression

Aus manchen Polizei-Bezirken wird von Grausamkeiten und Gewalt berichtet, nicht nur von der Verletzung der Rechte Protestierender. Der bekannteste Fall im Frühjahr 2022 ereignete sich in der Polizeistation des Moskauer Bezirks Brateyevo, wo mehrere feministische Aktive an den Protesten teilgenommen hatten und von Polizisten geschlagen wurden. Einer der jungen Frauen gelang es, auf ihrem Smartphone eine Audioaufnahme der Misshandlungen zu machen. Dieser schreckenserregende Ton-Mitschnitt ist bemerkenswert nicht nur wegen des Beweises einer Straftat sondern auch wegen der Äußerungen der Polizeibeamten, die zum Beispiel sagten, dass „Putin uns angewiesen hat, die Scheiße aus denen [den Protestierenden] herauszuprügeln.“

Im März wurden neue Zensurgesetze in Kraft gesetzt. Russ*innen können nun für fünf Jahre inhaftiert werden, wenn sie die „Spezial-Operation“ [in der Ukraine] verurteilen oder „vorsätzlich falsche“ Informationen darüber verbreiten. Dies hat wesentlich dazu beigetragen, dass die massenhaften Anti-Kriegs-Proteste endeten. Dennoch hielt dies viele Russ*innen nicht davon ab, allein und auf eigene Faust gegen den Krieg zu protestieren, in dem sie Plakate auf den Straßen herumtrugen.

Spektakel des Unwirklichen

Es ist in der russischen Oppositionsbewegung schon lange Tradition, sich über die Absurdität der Anklagen gegen Protestierende lustig zu machen. Wurden 2019 beispielsweise Bürger*innen angeklagt, weil sie Plastikbecher und -flaschen auf Polizeibeamte geworfen und diese verletzt haben sollten, kam es 2022 zu Fällen anderer Art: viele Leute wurden inhaftiert, weil sie leere Papierseiten in die Luft hielten statt Antikriegs-Poster.

Es scheint tatsächlich so, dass viele Leute das Plakate hochhalten auf den Straßen in provokative Performances verwandelt haben, um zu testen, ob solche Aktionen von der Polizei als illegal eingestuft werden.

Die Offiziellen des Landes, die beanspruchen, den Nazismus besiegt zu haben, verbannen die harmlosesten Slogans wie etwa: „Der Faschismus kommt nicht durch“, „Nein zu Faschismus“, „Nein zu Nazismus“ oder „Ich bin für Frieden“. Das gilt auch für den beliebtesten Slogan „Nein zum Krieg“ (Нет войне), der von Protestierenden gesungen wurde und sogar für Poster, auf denen die russischen Worte „Nein zum Krieg“ durch Sternchen ersetzt wurden – ein kritischer Hinweis darauf, dass die Regierung verboten hat, das Wort „Krieg“ zu benutzen, weil sie offiziell von einer „militärischen Spezialoperation“ spricht. Ein oft in Social Media geteiltes Video zeigt einen Polizisten, der die Worte „Nein zum Krieg“, die in den Schnee vor einer Statue geschrieben waren, gelassen mit seinen Füßen verwischt. Eine Person, die das so geschrieben hatte, erhielt eine Anklage wegen „Gravur durch Entfernen der Schneedecke“, die jedoch später fallengelassen wurde.

Des Weiteren wurden Gegenstände benutzt, um ihre Illegalität zu testen, wie etwa ein Buchexemplar von Leo Tolstoy´s „Krieg und Frieden“, ein Wurst-Snack der russischen Marke Miratorg (Мираторг), deren Name das russische Wort für Frieden (мир) in sich trägt oder eine Kreditkarte des staatlichen Bezahlsystems Мир. Mehrere amtliche Verfahren wurden später aufgegeben, beispielsweise wurde eine Person, die aus Orwell´s „1984“ rezitierte, ohne Auflagen freigelassen. Allerdings kostete es eine Einwohner*in von St. Petersburg 30.000 Rubel, dass sie Putins Antikriegs-Rede von 2021 zitierte.

Manche Fälle sind so absurd, dass man sich fragt, was in den Köpfen der Polizisten vorgeht, die diese Fälle notieren. Ein Einwohner von Yekaterinburg wurde in Arrest genommen, weil er Unterstützung für die Protestierenden aus seinem Auto heraus signalisiert hatte. In anderen Städten wurden Leute angeklagt, weil sie „stille Unterstützung ausdrückten“, als sie in der Nähe der Protestierenden standen oder weil sie „unsichtbare Antikriegs-Plakate hielten“ – dies sind tatsächlich Auszüge aus Polizeiprotokollen.

Verzweiflung

Einige Aktionen allerdings wirken weniger wie Performances sondern mehr wie Verzweiflungstaten. Ein junger Moskauer Aktive*r erhielt zwei Jahre Gefängnis für den Wurf eines Molotov-Cocktails, der keinen Schaden anrichtete; ein*e Philosoph*in aus Moskau sieht einer lebenslangen Haft entgegen, nachdem er/sie einen Polizeitransporter der OMON-Spezialeinheit mitten in der Stadt in Brand gesetzt hatte und zwei Männer werden staatsanwaltlich verfolgt für den Versuch, einen weiteren solchen Transporter während der Proteste am 6. März anzuzünden. In Krasnodar wurde ein junger Mann verhaftet, weil er eine Couch in die Mitte einer großen Straßenkreuzung gezogen, diese angezündet und „das Böse“ auf den Asphalt geschrieben hatte. Er erklärte, er habe das getan, weil er seine Freundin aus Mariupol, einer damals belagerten ukrainischen Stadt, seit dem Beginn der Invasion nicht mehr erreichen könne.

Manche gehen noch weiter und verletzen sich selbst in einem symbolischen verzweifelten Akt gegen den blutigen Krieg. Bei einer weiteren schrecklichen Performance in Sankt Petersburg legte eine junge Aktivistin sich ein Seil um den Hals und schloss sich mit Handschellen an einen Zaun neben einer belebten Straße. Vor einigen Wochen ging eine Yekaterinburger Aktivistin mit einem Antikriegs-Plakat auf die Straße, nachdem sie sich selbst ihren eigenen Mund zugenäht hatte. Sie ist vermutlich zwangsweise in ein psychiatrisches Heim eingewiesen worden.

Während des Schreibens dieses Berichts, in den Tagen des 7. bis 9. Mai, wurden Aktive der demokratischen Jugendorganisation Vesna (Весна), Journalist*innen des unabhängigen Internet-Portals SOTA und viele andere Aktive sowie einfache Bürgerwareninnen in russischen Großstädten verhaftet. Wahrscheinlich ist diese Verhaftungs- und Kriminalisierungs-Welle zurückzuführen auf Pläne für neue Antikriegs-Performances am 9. Mai, dem Tag der russischen Feier des Sieges über Nazi-Deutschland 1945 – den die russischen Offiziellen für Kriegspropaganda nutzen.

Wir stehen hinter den Verhafteten und Angeklagten, die sich gegen den Krieg positioniert haben.

Quelle: Russian Pacifists. Russia: Protests against the war in Russia. 9. Mai 2022. https://peacenews.info/node/10252/russia-protests. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Juni 2022

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