Shahar Perets, Foto: Oren Ziv, Magazine +972

Shahar Perets, Foto: Oren Ziv, Magazine +972

Shahar Perets, Israel: „Ich möchte keine Uniform tragen, die Gewalt und Schmerz symbolisiert“

(01.09.2021) Die israelische Kriegsdienstverweigerin Shahar Perets wurde am 31. August 2021 zu 10 Tagen Militärgefängnis verurteilt, nachdem sie bekannt gegeben hatte, dass sie sich wegen der Politik der israelischen Armee (IDF) gegenüber den Palästinenser*innen weigert, der Einberufung zu folgen.

Die 18-jährige Perets aus der Stadt Kfar Yona gehört zu den 120 Teenagern, die im Januar den „Shministim-Brief“ (eine Initiative mit dem hebräischen Spitznamen für Oberschüler) unterzeichneten, in dem sie ihre Weigerung erklärten, in der Armee zu dienen, um gegen die Besatzungs- und Apartheidpolitik des israelischen Staates zu protestieren. Im Juni 2020 forderte sie zusammen mit 400 israelischen Teenagern die israelische Führung auf, ihre Pläne zur Annexion von Teilen des besetzten Westjordanlands aufzugeben.

Am Dienstag, 31. August 2021, begleiteten Dutzende von Unterstüt­zer*innen, darunter auch der Knesset-Abgeordnete der Vereinten Liste, Ofer Cassif, sowohl Shahar Perets als auch den Kriegsdienstverweigerer Eran Aviv zum Einberufungsbüro Tel Hashomer in Zentralisrael. Dort teilten beide der Armee mit, dass sie ihren Dienst verweigern. Aviv hatte insgesamt bereits 54 Tage im Militärgefängnis verbracht und erwartete nun schon seine vierte Haftstrafe. Er wurde zu weiteren 10 Tagen Haft verurteilt. Nach ihrer Entlassung werden die Verweiger*innen erneut einberufen werden und der Kreislauf von Einberufung, Verweigerung und Haftstrafe wird sich wiederholen, bis die Armee beschließt, sie zu entlassen. Die Wehrpflicht ist für die meisten jüdischen Israelis verpflichtend. Aviv kam in Uniform zum Einberufungsbüro. Er war im Mai rekrutiert worden und die Armee hatte ihm einen Posten versprochen, der nichts mit der Besatzung zu tun hätte. Als die Armee das Versprechen nicht einhielt, entschied Eran sich, den Militärdienst zu verweigern. Die IDF betrachtet ihn seitdem als abtünnigen Soldaten.

Shahars Vater, Shlomo Perets, der selbst viermal im Gefängnis saß, weil er den Dienst im Libanon und in den besetzten Gebieten verweigert hatte, war ebenfalls anwesend, um seine Tochter zu unterstützen. „Das ist ihre Entscheidung. Sie handelt aus Überzeugung, sorgt sich um die Zukunft [des Landes] und möchte etwas verändern. Ich unterstütze sie und hoffe, dass es ihr gelingen wird, nichts zu tun, was ihren Prinzipien widerspricht, und sich zu weigern, das zu sein, was sie nicht ist.“

In den Tagen vor ihrer Verurteilung sprach ich mit Shahar Perets über ihre Gründe für die Dienstverweigerung, ihre Besuche in den besetzten Gebieten und über die kommende Zeit im Gefängnis.

„Ich beschloss, den Dienst zu verweigern, nachdem ich in der achten Klasse an einem Treffen zwischen Palästinenser*innen und Israelis in einem Sommerlager teilgenommen hatte“, erzählte Perets mir. „Ich freundete mich mit palästinensischen Jugendlichen an und mir wurde klar, dass ich sie nicht verletzen will. Ich will ihnen nicht als Soldatin begegnen und ihr Feind werden. Ich will mich nicht an einem System beteiligen, das sie tagtäglich unterdrückt.“

Welchen Prozess hast Du seit dieser ersten Begegnung mit den Palästinenser*innen durchlaufen?

„Ich wurde mit den Geschehnissen im Gazastreifen und im Westjordanland konfrontiert. Ich begann, mehr über die Lebenswirklichkeit der Palästinenser*innen zu erfahren. Schließlich traf ich die Entscheidung, nicht zur Armee zu gehen und dies öffentlich zu machen.“

Welche Bedeutung haben Deine Besuche im Westjordanland für Deine Entscheidung, den Kriegsdienst zu verweigern?

„Ich habe an Touren und allen möglichen Aktivitäten teilgenommen, darunter Freiwilligenarbeit für [palästinensische] Bauern in den südlichen Hebron-Hügeln und Hilfe bei der Olivenernte im nördlichen Westjordanland.

Es ist eine schwierige Erfahrung. Ich komme immer erschüttert zurück. Es passiert etwas Schlimmes und das muss aufhören. Der Übergang vom Betrachten von Fotos oder Hören von Zeugenaussagen zum Besuch der Gegend ist verrückt. Ich sehe die Siedlungen, in denen Kinder auf dem Weg zur Schule angegriffen werden. Ich sehe Orte, die für Palästinenser*innen unerreichbar sind, zum Beispiel in den südlichen Hebron-Hügeln im Gebiet C [unter vollständiger israelischer Militärherrschaft].

Ich habe die Entscheidung getroffen, bevor ich überhaupt im Westjordanland war, aber als ich die Soldaten und Siedler sah, die vor den Palästinenser*innen stehen, wurde mir klar, dass ich nicht einer von ihnen sein will, dass ich nicht diese Uniform tragen will, die die Gewalt und den Schmerz symbolisiert, den die Palästinenser*innen erleben.“

Im vergangenen Jahr hast Du mit vielen israelischen Jugendlichen gesprochen, als Du die Veröffentlichung des Shministim-Briefes vorbereitet hast. Welche Reaktionen gab es auf Deine Entscheidung zur Kriegsdienstverweigerung?

„Die Leute reagierten zunächst erschrocken, da es in den meisten Kreisen von Teenagern in Jugendbewegungen und Schulen keine kritischen Gespräche über Militär, Rekrutierung und Besatzung gibt. Sowohl meine engen Freund*innen als auch die Menschen in meinem weiteren Umfeld waren überrascht. Sie wussten nicht, dass es die Option gibt, nicht zur Armee zu gehen. Gleichzeitig konnten sich viele Jungen und Mädchen plötzlich mit der Sache identifizieren und den Brief unterschreiben. Ich möchte glauben, dass diese Treffen von Bedeutung sind. Sie geben [den Menschen] viel Kraft und eine echte Alternative.“

Hoffst Du, dass Deine Verweigerung anderen Teenagern ermöglicht, eine andere Option zu sehen?

„[Israelische] Jugendliche begegnen Palästinenser*innen zum ersten Mal als Soldat*innen, wenn sie Uniformen tragen und Waffen in der Hand halten. Es ist klar, dass diese Begegnungen eine andere Qualität hätten, wenn es [vorher] in der Schule Begegnungen mit Palästinenser*innen oder Gespräche über die palästinensische Geschichte gegeben hätte.

Offensichtlich ist dies Teil der Politik des Systems, der Absicht, zu trennen, eine Realität von ‚Feinden‘ und ‚Terroristen‘ zu schaffen, anstatt alle, die hier leben – Palästinenser*innen wie Israelis - zu betrachten und zu sagen: Lasst uns leben und Sicherheit für alle schaffen. Lasst uns einander nicht verletzen, lasst uns aufhören zu töten und getötet zu werden.“

Wie hat Deine Familie reagiert?

„Im Großen und Ganzen unterstützen mich sowohl meine Freund*innen als auch meine Familie sehr. Natürlich ist nicht jeder glücklich darüber, dass ich ins Gefängnis gehen werde. Es ist seltsam, auf die Frage ‚Was wirst du als nächstes tun?‘ zu antworten, dass ich in einer Woche ins Gefängnis gehe. Ich denke, die Menschen in meinem unmittelbaren Umfeld konnten meine Verweigerung verstehen.“

Willst Du mit Deiner Kriegsdienstverweigerung auch eine Botschaft an die Palästinenser*innen senden?

„Die Botschaft ist, dass die Verweigerungsbewegung zwar in der Minderheit ist, dass sie aber existiert und Einfluss hat. Es gibt Menschen, die nicht bereit sind, das, was geschieht, zu unterstützen. Sie leisten Widerstand und handeln, damit andere wissen, was geschieht.“

 

In den letzten 50 Jahren haben Jugendliche zahlreiche Briefe veröffentlicht, in denen sie ihre Weigerung bekannt gaben, den Militärdienst in den besetzten Gebieten oder grundsätzlich abzuleisten. Der erste Shministim-Brief wurde 1970 inmitten des Zermürbungskrieges zwischen Israel und Ägypten veröffentlicht. Der in diesem Jahr geschriebene Shministim-Brief wurde von Teenagern unterzeichnet, bei denen erwartet wird, dass sie ins Gefängnis kommen oder die aus verschiedenen Gründen freigestellt worden sind.

Shahar Perets hatte sich ursprünglich am Einberufungsprozess beteiligt, ihn aber mittendrin abgebrochen und sich entschieden, keine Befreiung von der Armee zu beantragen.

„Ich beschloss, weder den Weg der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen noch den einer Ausmusterung aus medizinischen oder psychischen Gründen zu gehen.“, sagt Perets, „Denn es ist wichtig für mich, zu meinen Prinzipien zu stehen und nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich das Problem bin und vom Dienst befreit werden sollte. Ich habe mich entschieden, ins Gefängnis zu gehen und mich einer Kampagne anzuschließen, weil ich hoffe, dass ich damit die meisten Menschen erreichen kann. Ich hoffe, dass die Menschen durch meine Verweigerung über ihren Platz in dieser Realität nachdenken werden.“

Glaubst Du, dass die Menschen, insbesondere Jugendliche, heute nicht wissen, was in den besetzten Gebieten geschieht? Oder wissen sie es und wollen es verdrängen?

„Es gibt ein sehr großes Ausmaß an Verdrängung. Die Menschen wissen es nicht oder sie wissen es und wollen es nicht wissen. Nicht immer sind wir für die Unterdrückung verantwortlich, sondern das Bildungsministerium, die Regierung und alle möglichen anderen Organisationen, die nicht über [die Besatzung] sprechen. Im Geschichtsunterricht wird nicht über das palästinensische Narrativ gesprochen. Das schreckt die Menschen natürlich ab. Die Leute werden extrem defensiv, wenn ich ihnen sage, dass ich nicht vorhabe, zur Armee zu gehen. Sie nehmen es persönlich und werden wütend. Das kommt ganz klar von einem Unwillen, damit umzugehen.“

Wie bereitest Du Dich auf Deine Zeit im Gefängnis vor?

„In den letzten drei Jahren war ich Teil eines Netzwerks von Frauen, die den Dienst verweigern. Ich konnte darüber sprechen und darüber nachdenken, was im Gefängnis passiert. Vor meiner Inhaftierung habe ich mit Kriegsdienstverweiger*innen gesprochen, die im Gefängnis saßen. Sie haben mir geholfen, die Liste der Dinge zusammenzustellen, die ich mitnehmen werde: viele Bücher, Sudokus und Malbücher. Ich habe angefangen, Arabisch zu lernen, also werde ich ein paar Notizbücher dabei haben, um weiter zu üben, falls sie mich lassen.“

Wie läuft das Ablehnungsverfahren in der Praxis ab? Was passiert am Tag der Rekrutierung?

„Ich werde mich im Einberufungsbüro der Armee melden und mich weigern, das Verfahren zur Rekrutierung zu durchlaufen. Das ist die erste Konfrontation mit dem System. Von dort aus werde ich zu allen möglichen Offizieren geschickt werden, um alle möglichen Gespräche zu führen und Überzeugungsarbeit zu leisten, bis sie [meine Position] verstehen. Im Stützpunkt selbst findet dann eine Verhandlung statt, bei der über meine Strafe entschieden wird [normalerweise zwischen 10 Tagen und zwei Wochen]. Nach der Verhandlung werde ich in Haft bleiben, bis ich ins Gefängnis verlegt werde.

Nach meiner Entlassung werde ich mich in weiteren Rekrutierungsverfahren erneut verweigern und zurück ins Gefängnis geschickt werden. Ich weiß, dass ich in den kommenden Monaten genau das tun werde. Ich werde meinen 19. Geburtstag im Gefängnis feiern.“

Interview mit Shahar Perets: “I don’t want to wear a uniform that symbolizes violence and pain" In: +972 Magazine. 1. September 2021. Übersetzung: rb. https://www.972mag.com/conscientious-objector-shahar-peretz. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2021

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