Aktion in Diyarbakır, 15. Mai 2016. Foto: VR-DER

Aktion in Diyarbakır, 15. Mai 2016. Foto: VR-DER

Unsichtbarer Widerstand gegen türkisches Militär

von Rudi Friedrich mit türkischen Aktivist*innen

(20.08.2018) Anfang März 2018 erklärte Ahmet Alcan seine Desertion von der türkischen Armee. Er war der einzige, der seine Weigerung, im Krieg in Afrin teilzunehmen, öffentlich machte. Er verließ die Armee nur drei Tage vor seiner Überstellung nach Nordsyrien. „Mit mir wurden noch zwei weitere Soldaten beordert. Es scheint, dass sie an den Militäroperationen in Afrin teilnehmen werden müssen. Die Soldaten wollen nicht gehen, aber sie werden dazu gezwungen.“1 Die Türkei hatte erklärt, dass nur Berufssoldaten nach Syrien geschickt worden seien, aber Menschenrechtsaktivisten und andere Quellen berichten, dass auch Wehrpflichtige in das Kriegsgebiet geschickt wurden.

Am 18. März 2018 gab der türkische Präsident Tayyip Erdoğan den Sieg in Afrin bekannt. Truppen der Freien Syrischen Armee (SFA) sind mit Rückendeckung türkischer Einheiten in die Stadt eingedrungen. Eine Woche später verkündete Erdoğan, dass die Türkei auch im angrenzenden Tal Rifaat die Kontrolle übernehmen werde.2 Kurz darauf erklärte der Türkische Sicherheitsrat, in einem weiteren türkeinahem Gebiet, das derzeit mit Rückendeckung der USA von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) kontrolliert wird, intervenieren zu wollen: „Falls die Terroristen nicht unverzüglich Manbij verlassen, wird die Türkei nicht zögern, auch dort die Initiative zu ergreifen, wie sie es schon in anderen Gebieten gezeigt hat.“3 Zusammengefasst: Die Kriegspolitik der türkischen Regierung, der Angriff und die Invasion benachbarter Länder wie Syrien geht weiter.

Laut Zahlen, die der englische Guardian veröffentlichte, sind mehr als 200.000 Zivilist*innen aus der mehrheitlich kurdischen Stadt Afrin geflohen und mehrere Dutzend getötet worden.4 Beim „Befreiungskongress“ in Afrin, der Ende März unter der Schirmherrschaft der Türkei stattfand, wurde bekanntgegeben, dass die gesamte Region als Teil der türkischen Provinz Antakya regiert werden soll.5 Ein Bericht des Independent-Autors Patrick Cockburn weist darauf hin, dass jesidische Kurden gezwungen wurden, zum Islam zu konvertieren und dass die Namen von Dörfern geändert wurden.6 Im Mai 2018 bestätigte das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (UNOCHA), dass die Türkei palästinensische Flüchtlinge in Afrin ansiedelt.7 Es scheint, dass die Türkei die Bevölkerung in der Region austauschen möchte, um damit die kurdische Mehrheit zu brechen.

Die türkische Regierung erklärte im Juli 2018, ihre Einheiten aus Afrin zurückziehen zu wollen. Die Freie Syrische Armee bleibt unter der Rückendeckung der Türkei, um das Gebiet zu kontrollieren. Der Gouverneur ist aus dem türkischen Hatay entsandt. Nun dominieren islamische Regelungen das Leben in der Provinz.8

Die Rekrutierung zum Krieg vermeiden

Während des Krieges um Afrin und umliegende Gebiete ist in Istanbul die Zahl der Anfragen von Rekruten bei Menschenrechtsorganisationen und Unterstützer*innen von Kriegsverweigerern angestiegen. Wehrpflichtige baten und bitten um Hilfe, damit sie nicht eingezogen werden. Sie wollen nicht zum Militär, um nicht in Afrin oder anderen Kriegsgebieten zu kämpfen. Gleichzeitig wollen sie aber nicht, dass ihr Anliegen publik wird. Sie machen ihre Verweigerung nicht öffentlich. Aber ihre Entscheidung ist klar: Sie sagen NEIN zum Krieg.

In den letzten Jahren haben etwa 300 Männer, laut der Webseite des Vereins für Kriegsdienstverweigerung (Vicdani Ret Derneği), ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt. Diese relativ niedrige Zahl enthält nur Männer, die an die Öffentlichkeit gegangen sind. Ihre Gesamtzahl ist nicht bekannt.

Andererseits dürfen die Bedeutung und der Einfluss dieser öffentlichen Erklärungen, bei der sie auch die Gründe der Verweigerung bekanntgeben, nicht unterschätzt werden. Zu diesen 277 Personen gehört auch der Umweltaktivist Sergen Sucu. Gegen ihn wurde ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet. Strafrechtlich verfolgt werden auch immer wieder Unterstützer*innen von Verweigerern, wie zuletzt die Co-Vorsitzende des Vereins für Kriegsdienstverweigerung, Merve Arkun. Beide werden beschuldigt, Propaganda für Terrorismus verübt zu haben.9

Gleichzeitig gibt es eine sehr große Zahl an Männern, die zwar nicht ihre Verweigerung und dessen Gründe öffentlich bekannt geben, aber trotzdem bevorzugen, nicht zum Militär zu gehen. Sie werden unter der Kategorie „Militärdienstentzieher“ geführt. Laut einer Information des Verteidigungsministeriums gab es im März 2017 ungefähr 450.000 „Militärdienstentzieher“.10

Hinzu kommen noch jene Wehrpflichtigen, die über Jahre hinweg als Militärdienstentzieher in der Türkei leben und sich schließlich über besondere gesetzliche Regelungen von der Ableistung des Militärdienstes freikaufen. Solche Regelungen wurden immer nur für einen kurzen Zeitraum beschlossen. Am 26. Juli 2018 verabschiedete das türkische Parlament erneut eine auf drei Monate befristete Regelung.11 Das letzte Gesetz zum „Freikauf“, das 2014 verabschiedet worden war, hatten etwa 204 000 Männer, die mindestens 28 Jahre alt sein mussten, für einen entsprechenden Antrag genutzt.12

Für im Ausland lebende türkische Staatsbürger gibt es eine auf Dauer gültige Freikaufsregelung. Mehrere Hunderttausend haben diese inzwischen in Anspruch genommen.13

Zahlen über weitere Gruppen wurden kürzlich vom Verteidigungsministerium veröffentlicht. Es handelt sich um Personen, die als untauglich gemustert wurden. In einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage wird angegeben, dass 155.059 Männer zwischen 1. Januar 2015 und 31. Juli 2017 Untauglichkeitsbescheinigungen erhalten haben.14 Des Weiteren haben sich, wiederum laut Zahlen des Verteidigungsministeriums vom März 2017, 2.800.000 Männer vom Militärdienst zurückstellen lassen.15

Tatsächlich versuchen demnach mehrere Millionen dem Militärdienst zu entkommen. Es scheint also, dass es ein hohes Maß an unsichtbarem Ungehorsam gibt. Es ist eine Abstimmung mit den Füßen. Unter den momentanen Umständen einer umfassenden Unterdrückungspolitik sind die Chancen nicht sehr groß, dass dies ans Licht kommt. Einzelne, öffentliche Erklärungen, sind jedoch ein wesentlicher Beitrag dazu.

Fußnoten

1 ANF News: Mutiger Soldat desertiert, statt nach Afrin in den Krieg zu ziehen. March 1, 2018. https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/mutiger-soldat-desertiert-statt-nach-efrin-in-den-krieg-zu-ziehen-2758

2 https://ahvalnews.com/turkish-politics/we-will-take-control-tal-rifaat-finish-operation-erdogan

3 https://ahvalnews.com/manbij/turkish-security-council-resolved-take-manbij

4 https://www.theguardian.com/world/2018/mar/18/turkey-claims-afrin-city-centre-under-total-control-syria

5 https://ahvalnews.com/afrin/congress-makes-afrin-part-turkish-province

6 https://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/syria-yazidis-isis-islam-conversion-afrin-persecution-kurdish-a8310696.html

7 https://ahvalnews.com/afrin/turkey-settling-palestinians-syrias-afrin-un

8 NZZ, 5. Juli 2018, https://www.nzz.ch/international/die-tuerkei-macht-sich-unter-den-kurden-in-afrin-wenig-freunde-ld.1400828

9 https://www.wri-irg.org/en/story/2018/turkey-investigation-against-conscientious-objection-association-co-chair-merve-arkun and https://anfdeutsch.com/aktuelles/Sirnex-kriegsdienstverweigerer-festgenommen-5268

10 http://www.hurriyet.com.tr/gundem/bakandan-flas-bedelli-askerlik-aciklamasi-40389541

11 Informationen türkischer AktivistInnen vom 28. Juli 2018 sowie https://www.haberler.com/bedelli-askerlik-duzenlemesini-iceren-torba-yasa-11110097-haberi/

12 https://www.a24.com.tr/bedelli-askerlikte-son-durum-nedir---2018de-bedelli-askerlik-cikacak-mi-haberi-40116885h.html?h=52

13 Gürsel Yıldırım und Julian Irlenkäuser: Die Freikaufsregelung – Ein Milliardengeschäft. In: Türkei – Es gibt viele Gründe Nein zu sagen, Offenbach 2013

14 http://www.haber7.com/siyaset/haber/2461072-bakan-acikladi-curuk-raporunda-rekor

15 Nach Artikel 35 des Gesetzes 1111 zur Wehrpflicht gibt es verschiedene Gründe für eine Zurückstellung, wie Ausbildung und gesundheitlicher Zustand

Rudi Friedrich: Silent/Invisible Resistance to Turkish Military. 20. August 2018. Rudi Friedrich ist Geschäftsführer von Connection e.V. Dieser Beitrag wurde zusammen mit einem*r türkischen Aktivist*in verfasst, die*der aus Sicherheitsgründen ungenannt bleiben muss. Übersetzung ins Deutsche: Michaela Söllinger. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2018

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