Mertcan Güler

Mertcan Güler

„Ich werde kein Soldat dieses Systems“

Erklärung zur Kriegsdienstverweigerung

von Mertcan Güler

(05.10.2020) Ich heiße Mertcan Güler. Ich bin 1992 in Mersin zur Welt gekommen. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich drei Jahre alt war. Mein Vater und meine Oma, mit denen ich zusammen aufwuchs, waren typisch türkische Menschen, die Atatürk unterstützten. Meine Geschichte will ich chronologisch erzählen.

Auch wenn ich als Kind nichts davon wusste, hatte ich schon als Kind die Idee, nicht zum Militär gehen zu wollen. Ich erinnere mich daran, dass ich im Alter von sechs Jahren meiner Oma erklärte, dass ich keinen Wehrdienst machen werde. Er machte mir schon damals Angst. Meine Oma antwortete: „Bis deine Zeit gekommen ist, wird es sowieso keine Wehrpflicht mehr geben.“ Es ist mehr als 20 Jahre her und es gibt in der Türkei leider immer noch die Wehrpflicht.

Bis zu meinem Studium mussten wir jeden Montagmorgen vor Schulbeginn und jeden Freitagabend nach Schulschluss die Nationalhymne singen und das sogenannte „unser Versprechen“ - Andimiz auf türkisch - aufsagen. Die türkische Nationalhymne und „unser Versprechen“ schließt faschistische Elemente ein. Die ersten drei Sätze von „unserem Versprechen“ lauten: - „Ich bin Türke. Ich bin richtig. Ich bin fleißig.“ Über die ständige Wiederholung manipuliert der türkische Staat die Kinder mit Militarismus und Faschismus während der ganzen Ausbildungszeit. Er indoktriniert sie, eine Art Gehirnwäsche.

Es mag hier in Deutschland erstaunen, bezüglich der Türkei von Faschismus zu reden. Der Begriff wird sicherlich im anderen Zusammenhang benutzt. In Deutschland steht er in engem Zusammenhang mit den NS-Zeiten. In der Türkei versteht man unter Faschismus, wenn die Regierung oder von der Regierung unterstützte Gruppen Menschen und Minderheiten verfolgen und diejenigen unterdrücken, die unterschiedliche politische oder religiöse Ansichten haben. Das bedeutet: Sie zwingen Menschen dazu, die gleiche Meinung mit denen zu haben, die an der Macht sind. Jedwede Kritik gegen gesellschaftliche und staatliche Normen wird abgelehnt.

Zu meiner Zeit befasste sich der Unterricht in Geschichte schwerpunktmäßig mit dem osmanischen Reich und Atatürk. Obwohl ich auf eine private Schule gegangen bin, wurde das osmanische Reich verehrt.

Mein Interesse an Geschichte und Politik fing an, als ich im Geschichtsunterricht im Gymnasium mehr über die NS-Zeit erfuhr. Ich begann wichtige Menschen und Ereignisse zu recherchieren. Während dieser Recherchen kam mein Vater manchmal zu mir, teilte mir seine Meinung mit und erzählte was er wusste.

Meine Recherchen dauerten bis zum Anfang meines Studiums an. Trotz meiner Unerfahrenheit, dachte ich, dass die Regierung etwas falsch macht und religionsorientiert war. Und das trieb mich an. Die islamistisch geführte Politik der AKP Regierung ist der Grund, dass ich mich dem Islam gegenüber kritisch stellte. Wir sahen nicht nur, sondern erlebten auch, wie brutal und faschistisch der Islam sein kann, wenn er an die Macht kommt.

Während meines Studiums fanden 2013 die Gezi-Proteste statt. Mein erstes politisches Engagement und die deutlichen Änderungen meiner Ideen begannen von diesem Zeitpunkt an.

Ich erinnere mich immer noch sehr gut daran, wie es angefangen hat. Am 28. Mai wollte ich zusammen mit einem Freund ein paar Bierchen trinken und im Internet bzw. Twitter surfen. Plötzlich sahen wir Videos, wie Fußballfans in Istanbul am Taksim-Platz durch die Stadt marschierten und gegen etwas protestierten. Wir, als die junge Generation, die die Nase voll vom Druck hatte, hatten für kurze Zeit die Hoffnung, dass die Zeit der Regierung endlich vorbei ist.

Was ich hier als „Druck“ bezeichne ist die streng-konservative und islamistische Politik der Regierung, die Einmischung in den Lebensstil der Menschen durch die Regierung und die Verehrung islamistischer Sekten und Gemeinden.

In den nächsten Tagen wurden weitere Videos, Bilder und Berichte über Polizeiterror in Istanbul hochgeladen. Was wir sahen war gruselig. Die Gewalt und der Terror gegen Zivilisten war abschreckend.

Was uns und die anderen bewegte, war das aggressive Vorgehen der Regierung gegen ganz normale und sogar nicht-politisch motivierte Menschen, um den eigenen Willen durchzusetzen.

Demonstrieren ist ein Menschenrecht. Wer aber in der Türkei dieses Menschenrecht in Anspruch nehmen und demonstrieren möchte, und wenn dies gegen die Vorstellungen der Erdoğan-Regierung gerichtet sein könnte, darf von Polizisten verprügelt werden, gegen den kann Pfefferspray eingesetzt werden, Gasbomben können gegen den Kopf geworfen werden, Plastikgeschosse ins Gesicht geschossen oder er/sie kann sogar mit „legalen“ Kugeln umgebracht werden. Es kann auch vorkommen, dass sie willkürlich in Polizeigewahrsam genommen werden, dabei gefoltert und sogar im extremsten Fall getötet werden. Es kann auch passieren, dass um vier Uhr nachts ihre Wohnung durch mit Maschinengewehren bewaffnete Beamten gestürmt und eine Razzia durchgeführt wird, weil sie an einer Demonstration teilgenommen haben. Außerdem kann die Regierung sie theoretisch und heutzutage auch praktisch jeglicher Menschenrechte berauben. Die Erdoğan-Regierung erklärte ganz offen: „Wir machen alles was wir wollen. Stellt Ihr euch gegen uns, werdet Ihr dem Polizei- und Staatsterror begegnen.“

Erdoğan wollte damals den Gezi-Park zerstören und dafür etwas anderes bauen. Dieser Park war vielleicht die einzige grüne Fläche in der Mitte Istanbuls. Deswegen demonstrierten die Öko-Aktivisten dagegen. Während der Demos im Gezi-Park standen sich auch in der restlichen Türkei in vielen Städten beide Seiten gegenüber, die Regierung mit den Sicherheitskräften und die friedlichen Demonstrant*innen. Dutzende Menschen starben, tausende wurden verletzt, zum Teil schwer.

Wir wussten, dass wir Gewalt erleben würden, als wir auf die Straße gingen. Einige meiner Freunde hatten wegen des intensiven Einsatzes von Tränengas Asthmaanfälle, einer von ihnen wurde am Auge von einem Plastikgeschoss getroffen. Alles ist direkt neben mir passiert. Ich hatte nur Glück, dass nicht auch ich von einem Plastikgeschoss getroffen wurde. Während ich auf den Straßen dem Staatsterror widerstand, während ich aufschrie, dass die islamistische Regierung gestoppt werden muss, standen neben mir die Menschen, die Linken, Demokraten und Kurden, die uns in der Schule immer als „Monster“ beschrieben worden waren. Der Staat, der die ganze Zeit als „heilig“ dargestellt wurde, stand nun gegen uns.

Es ging uns nahe, als das 15-jährige Kind Berkin Elvan durch eine Gasbombe am Kopf lebensgefährlich getroffen wurde und später im Krankenhaus seinen Verletzungen erlag. Wir konnten nicht ermessen, dass der Staatsterror soweit gehen würde. Wir demonstrierten dagegen. Wir wollten zum AKP-Gebäude laufen und davor demonstrieren. Die Polizei reagierte erneut mit Gewalt. Damit bewies sie, dass sie nicht dort war, um die Menschen zu schützen, sondern die Regierung. Wir liefen vor den Gasbomben und Plastikgeschossen weg, weil die Polizei bewusst und gezielt auf uns schoss. Auf der Flucht fanden wir Unterschlupf in einem Haus und versteckten uns dort bis wieder Ruhe herrschte. Da die Gefahr der weiteren Verfolgung bestand, gingen wir auf unterschiedlichen Routen nach Hause. Ich schaute mich die ganze Zeit um und fühlte mich unsicher.

Bei den Protesten wurde noch ein junger Mann durch Polizisten hingerichtet. Er hieß Ahmet Atakan. Auch dagegen wollten wir natürlich protestieren. Während dieser Demo trug ich den kurdischen Schal, der auch „Puschi“ genannt wird. Ich hatte keine Gesichtsvermummung und war nur friedlich dabei, um zu protestieren. Ich vermute, dass mein Schal das Interesse der Polizisten weckte und sie versuchten mich aus ca. 3 Meter Entfernung zu fotografieren. Als ich das bemerkte, drehte ich mein Gesicht um und versuchte woanders hin zu gehen. Am Ende dieser Demo attackierte die Polizei uns und einige der Aktivisten wurden festgenommen.

Es widerte mich an, wie sich die Erdoğan-orientierten Medien (fast alle Medien) sich verhielten, während unsere Freunde einfach auf der Straße hingerichtet wurden. Ich verurteile die Presse, weil sie offensichtlich gelogen hat, doch die Menschen erkannten dadurch erst recht die Wahrheit. Wir Aktivisten wurden in den Medien als „Terroristen“ präsentiert. Ich bin dabei gewesen, aber ich war doch kein Terrorist. Die einzigen Terroristen, die ich sah, waren die Polizisten. Es brachte mich zum Nachdenken, dass die Berichterstattung über die Kurden und auch über andere Minderheiten aus Lügen bestehen können. Seitdem schaue ich kein Fernsehen mehr, weil dies für mich nicht mehr glaubwürdig ist.

Nachdem die Gezi-Proteste zu Ende waren, begann die Regierung mit einer Hexenjagd. Sie führten Razzien in den Wohnungen derjenigen durch, die bei den Protesten aktiv gewesen sind. Das schreckte manche ab, trieb aber die anderen an, so wie mich.

Nach diesen Ereignissen verstand ich, dass ich Widerstand leisten muss um meine Grundrechte wie Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und Versammlungsfreiheit zu verteidigen und um überleben und existieren zu können. Ich begann eine Recherche und tauschte diese Informationen mit meinen kurdischen und alevitischen Kommiliton*innen aus. Ich erfuhr was sie erlebten, warum sie litten. Ich konnte nicht mehr tatenlos zusehen und wollte gegen solche Ungerechtigkeiten etwas tun. Es hatte nichts mehr mit Herkunft, Religion oder Minderheit zu tun. Das war eine Sache der Menschlichkeit.

Die Gezi-Proteste entzweiten die Menschen. Ich beendete meine Freundschaft mit denjenigen, die die Proteste nicht unterstützt hatten. Den Menschen wurde Gewalt angetan, weil sie lediglich ihre Grundrechte einforderten. Eine Freundschaft mit Menschen aufrechtzuhalten, die so etwas für legitim halten, kam für mich nicht mehr in Frage. Deshalb bestand mein Freundeskreis aus linksorientierten und Demokraten. Es war wundervoll, mit verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen Ideologien für unsere Grundrechte zu protestieren. So ein Gefühl der Einigkeit hatte ich niemals zuvor erlebt. Egal wie sie ausgesehen haben, egal was für eine Fahne sie in ihren Händen hatten, als sie Hilfe brauchten, kam irgendjemand. Wir erlebten das erste Mal in unserem Leben zivilen Ungehorsam. Ich lernte Leute aus unterschiedliche Organisationen kennen. Wir organisierten uns nicht nur im echten Leben, sondern auch online. Es war damals möglich jemanden auf Facebook als Freund einfach hinzufügen, sogar wenn man die Person persönlich nicht kannte. Man konnte auch über einige Themen online diskutieren. So erfuhr ich auch von der Kriegsdienstverweigerung, als ich Ercan Aktaş damals als Freund hinzufügte, der heute in Frankreich lebt.

Die Vorstellung, irgendwann Soldat werden zu müssen, diesem brutalen Staat und System dienen zu müssen, machte mich verrückt. Ich wollte niemals jemanden töten oder lernen zu töten. Aber ich hatte keine Idee, ob es überhaupt möglich war, den Militärdienst zu verweigern. Ich wusste nichts über Kriegsdienstverweigerung. Mit Hilfe der Diskussionen, die ich mit Ercan Aktaş führte, erfuhr ich immer mehr darüber.

Um gegen eine Maschine, die darauf programmiert ist, uns zu töten und unserer Grundrechte zu berauben, so dachte ich, müssen wir organisiert dagegen ankämpfen. Ich suchte daher nach einer entsprechenden Organisation. So kam ich mit der HDP in Kontakt.

Ich hatte die Regierung auch online kritisiert. Während ich die AKP-Regierung für ihre Unterstützung von Dschihadisten kritisierte, freute ich mich über die Befreiung vom IS durch die Kurden und den Sieg in Ar-Raqqa, Syrien.

Kaum hatte ich Beiträge dazu veröffentlicht, rief mich meine Mutter an. Ihre Stimme zitterte. Sie hatte offensichtlich Angst. Sie sagte, dass sie von Antiterroreinheiten angerufen worden sei und ich meine Beiträge löschen müsste. Ich hatte Angst und deaktivierte mein Facebook-Konto. In der Türkei gibt es zwei Arten der Verfolgung. Die erste ist offiziell und erfolgt über Anklagen, Ermittlungen usw. Die zweite ist nicht offiziell, das läuft über Beobachtung und Druck. Was ich damals erlebte entsprach ganz klar der zweiten Variante. Zu diesem Zeitpunkt wurde hoher Druck gegen Demokraten und besonders gegenüber der HDP ausgeübt. Zu nennen ist hier zum Beispiel der Bombenanschlag auf ein HDP-Gebäude in Mersin. Auch die Bombenanschläge in Suruç und Ankara durch die staatlich unterstützten dschihadistischen Organisationen gegen HDP-Kundgebungen machten mir Angst. Für die Versammlung in Ankara hatte es damals auch einen Bus aus unserer Stadt gegeben. Ich wollte eigentlich auch mitfahren, musste es aber wegen meiner Prüfungen stornieren. Ich hätte auch dabei sein und ebenso sterben können. So einfach war das. Ich fühlte mich nicht mehr sicher.

Mit meinen neuen Vorstellungen kam ich in Konflikt mit meiner Familie. Ich wurde zum Schwarzen Schaf der Familie.

Damals fühlte ich mich einer marxistisch-leninistischen Organisation nahe. Eine Zeit lang besuchte ich ihre Treffen. Nach manchen ideologischen Diskussionen verstand ich aber, dass es nicht mein Ding war. Konkret wurde mir das deutlich, als wir im Sommer ein Konzert mit einer der Organisation nahestehenden Musikgruppe organisierten. Ich sah, wie diese marxistisch-leninistische Organisation Tod, Blut und Waffen verehrte, was ich ablehne. Dann gaben sie auch diskriminierende Erklärungen gegen Personen aus den Reihen der LGBT heraus, was für mich nicht akzeptabel war. Ich wollte auch keinen marxistisch-leninistischen Staat aufbauen, wie es die Organisation propagierte. Ich begriff, dass ich der HDP viel näher stand. Sie akzeptierte einfach alle Arten von Menschen. Sie entsprach meiner Vorstellung, ein Aktivist für Menschenrechte, Minderheiten, Kriegsdienstverweigerung und Ökologie zu sein.

Am 15. Juli 2016 fand ein Putschversuch statt. Ich versuchte zu verstehen was los war. Erdoğan rief die Menschen dazu auf, auf die Straße zu gehen. Es herrschte Chaos. Die ganze Zeit waren Gebets- und Dschihad-Rufe aus den Moscheen zu hören. Meine Familie vernichtete unverzüglich alle meine Bücher, Zeitschriften und alle politischen Medien. Natürlich hatte das Schwarze Schaf der Familie kein Recht, das Leben der anderen zu ruinieren. Für mich fühlte sich das so an, wie sich die Juden im 2. Weltkrieg gefühlt haben müssen. In dieser Nacht traf ich die Entscheidung, das Land in dem ich aufwuchs, die Straßen in denen ich meine Kindheit verbracht habe, meine Familie und alles andere zurückzulassen und zu gehen.

Nach dem Putschversuch wurde der Ausnahmezustand verhängt. Es folgten Arreste und Angriffe gegenüber Oppositionellen. 1.767 Organisationen wurden geschlossen (Quelle: https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-44799489), Tausenden von Menschen wurden die Arbeit gekündigt, Hunderttausende wurden inhaftiert und gefoltert. Viele wurden entführt und getötet. Sogar der HDP Co-Vorsitzende Selahattin Demirtaş wurde inhaftiert. Es herrschte Willkür. Die Opposition hatte weder Lebens- noch Eigentumssicherheit. Bei Reisen mussten Menschen ständig durch mehrere Polizeikontrollen fahren, bis sie ihr Ziel erreichen konnten. Obwohl ich damals nicht offiziell verfolgt wurde, war ich sehr unruhig. Bei jeder Polizeikontrolle dachte ich, dass es vielleicht doch einen Hafbefehl gab, ich aber nichts davon wusste. Von heute auf morgen wurden Haftbefehle ausgestellt. Menschen wurden dann sofort bei der nächsten Kontrolle verhaftet. Unabhängig davon sehen die Polizisten alle politischen Informationen bei einer Ausweiskontrolle. Im Ausnahmezustand hätten sie daher auch willkürlich gegen mich vorgehen können. Davor hatte ich auch Angst.

Auch die erwähnte ML-Organisation in Mersin wurde geschlossen. Wie ich von jemandem aus der Organisation erfuhr, zeigten die Antiterroreinheiten meine Bilder während einer Anhörung vor und stellten Fragen über mich. Ich wusste, dass meine Zeit langsam gekommen war.

Ich war psychisch am Ende. Ich konnte nicht mehr schlafen. Wenn ich schlief, hatte ich mit Alpträumen zu kämpfen. Ich erinnere mich immer noch daran, dass ich oft mitten in der Nacht zum Notfalldienst gehen musste, weil ich Anfälle hatte. Ich hatte immer Angst, wenn ich einen Polizisten sah. Jedes Mal wenn ich das rot-blaue Licht eines Polizeiautos aus meinem Fenster bemerkte, dachte ich „Ok, dieses Mal ich.“

Ich erzählte meiner Familie, dass ich gehen will und fragte ob sie mir dabei helfen können. Sie halfen mir und dafür bin ich ihnen auch sehr dankbar. Ende 2017 war es dann soweit. Ich verließ die Türkei. Ich lebe jetzt in Deutschland und bin seit meiner Ausreise nie wieder in der Türkei gewesen. Ich denke nicht, dass ich meine Familie wiedersehen werde. Obwohl ich 3.000 Kilometer entfernt lebe, wurde ich wegen meiner Beiträge in den sozialen Medien angeklagt und Ermittlungen wurden eingeleitet. Der Grund sei, dass ich Erdoğan, Innenminister Soylu und den türkischen Staat beleidigt habe. Dazu kommt noch der Vorwurf der Propaganda für eine terroristische Organisation.

Ich werde niemals jemanden töten. Ich werde kein Soldat dieses Systems werden, eines Systems, welches mich ausschalten möchte. Ich möchte nicht, dass jemand meine Leiche nur wegen meiner politischen Ansichten in einer Kaserne findet. Ich werde die islamistische Regierung nicht mit dem „Märtyrer“-Schwachsinn füttern. Warum muss ich überhaupt jemanden töten? Warum soll ich für das „Vaterland“ kämpfen, wenn dieses Vaterland mich ausschalten möchte? Warum ist das überhaupt mein Vaterland, wenn ich nicht mal meine Meinung sagen darf und nicht existieren darf? Ich verweigere den Militärdienst aus Gewissensgründen und wegen meiner politischen und religiösen Ansichten.

Gewalt, vor allem in der türkischen Armee, habe ich immer verweigert, und werde ich immer verweigern. Ich werde an keiner bewaffneten und gewalttätigen Organisation teilnehmen.

Was passiert in der türkischen Armee? Vor allem, wenn man oppositionelle Ideen hat oder nicht dem Mainstream entspricht, ist es wahrscheinlich, dass man während des Militärdienstes durch den Kommandanten gemobbt wird. Denn vor der Einberufung sind bereits die Geheimdienstberichte in der Kaserne angekommen. Es ist auch möglich, dass man „scheinbar“ Selbstmord begangen hat. Und niemand kann etwas anderes beweisen. Es gibt mehrere Beispiele dazu. Auf der anderen Seite muss man kämpfen, wenn es befohlen wird. Hinzu kommt eine von Fanatismus und Nationalismus geprägte Gehirnwäsche, die nicht hinterfragt werden darf. Ich persönlich will nicht für Grenzen, gegen sogenannten Terror oder für das Vaterland kämpfen, oder Teil einer Organisation werden, die für so etwas kämpft und Gewalt anwendet. Ich bin als Mensch geboren, und ich werde Mensch bleiben. Militärische Gewalt konvertiert hingegen Menschen zu Monstern.

Die Kriegsdienstverweigerung ist in der Türkei immer noch nicht anerkannt, obwohl sie ein Menschenrecht ist. Wer verweigert, bekommt zunächst Geldstrafen, danach Haftstrafen. Wann auch immer man in einem Hotel übernachten will, kommen Polizisten in der Nacht und verlangen, dass man ein Dokument unterschreibt, welches auferlegt, sich innerhalb von 15 Tagen zum Militärdienst zu melden. Wenn man irgendwann in eine andere Stadt reisen will und dabei kontrolliert wird, passiert das Gleiche, ebenso bei einer einfachen Ausweiskontrolle auf der Straße. Arbeiten darf man sowieso nicht. Der türkische Staat zwingt mich in einen Zivilen Tod, wenn ich kein Soldat werden möchte.

Das ist ein Wunde in der türkischen Gesellschaft. Weil der Staat und die Erdoğan-Regierung Gewalt und Militarisierung immer verehrt haben, sehen die Menschen Militärdienst als ein Symbol für Männlichkeit und Patriotismus an. Ich aber sage Nein dazu. Ich rufe die neue Generation dazu auf, den Militärdienst zu verweigern, auch wenn es kein einfacher Weg ist.

Mertcan Güler: „Ich werde kein Soldat dieses Systems werden“. Erklärung zur Kriegsdienstverweigerung. 5. Oktober 2020. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2020

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