Ruslan Kotsaba

Ruslan Kotsaba

Wie es zum Bürgerkrieg in der Ukraine kam

von Ulrich Heyden, Moskau

Durch Verarmung, Oligarchisierung und Entstaatlichung wurde der Boden für einen radikalen, ukrainischen Nationalismus geschaffen. Daraus müssen auch in Deutschland Lehren gezogen werden.

Als ich das erste Mal für einen längeren, dreimonatigen Aufenthalt in die Ukraine kam, das war im Februar 1992, hatte ich ausgesprochen positive Gefühle für die gerade erst unabhängig gewordene Ukraine. Die neue gelb-hellblaue Fahne schien mir wie ein frohes Zeichen, eine Verbindung von Sonne und Meer. Ich packte meine Geschenke für meine ukrainische Gastfamilie in blau-gelbes Papier ein.

Damals dachte ich, die Sowjetunion sei auch an ihrer Überzentralisierung gescheitert. Eine Dezentralisierung könne bei einer Demokratisierung des Super-Staates helfen, ohne dass die sozialen Grundrechte dabei verloren gehen.

Ich wohnte damals bei einer befreundeten Intellektuellen-Familie in Kiew, berichtete als Journalist für die Berliner TAZ und den Deutschlandfunk darüber, wie die Ukrainer mit den Folgen von Tschernobyl umgehen, über einen Streik der Trolleybus-Fahrer von Kiew und wie sich die Ukrainer trotz der tiefen Wirtschaftskrise trotzdem über Wasser hielten.

Dezentralisierung oder vollständige Unabhängigkeit?

Mein Freund Andrej, ein junger ukrainischer Philosoph mit starken Sympathien für die ukrainische patriotische Intellektuellen-Vereinigung Ruch, erklärte mir damals das Ergebnis der von Gorbatschow initiierten Abstimmung über die Zukunft der Sowjetunion, die im März 1991 in allen ehemaligen Sowjet-Republiken stattfand. Andrej meinte, in der Ukraine hätten die Menschen mitnichten – wie ich meinte - für einen Fortbestand einer dezentralisierten Sowjetunion gestimmt, sondern für die vollständige Unabhängigkeit von Moskau.

Am 17. März 1991 fand in allen Republiken der Sowjetunion ein Referendum über eine Föderation gleichberechtigter Republiken statt. 76 Prozent der Bürger der Sowjetunion sprachen sich bei diesem Referendum für eine föderative Union gleichberechtigter Republiken aus.

Am niedrigsten waren die Zustimmungsraten damals in Russland und in der Ukraine, wo sich nur 71 beziehungsweise 70 Prozent der Abstimmenden für eine erneuerte Sowjetunion aussprachen. Die Abstimmungen in den Sowjet-Republiken wurden vermutlich von den regionalen Partei-Bürokratien gesteuert. Russland und die Ukraine waren industriell gut entwickelte Sowjet-Republiken. Von daher hatten die Menschen in diesen Republiken keine Angst vor mehr Eigenständigkeit. Besonders viele Ja-Stimmen für eine reformierte Sowjetunion gab es in den ärmeren Republiken Zentralasiens. Spitzenreiter war Turkmenistan mit 97 Prozent Ja-Stimmen, gefolgt von Tadschikistan und Kirgistan mit jeweils 96 Prozent. Die vergleichsweise niedrige Zahl der Ja-Stimmen in Russland und der Ukraine hing damit zusammen, dass sich Parteibürokratien in diesen industriell gut entwickelten Republiken weniger von einer Machtverteilung innerhalb der Sowjetunion versprachen als die ärmeren Republiken in den süd-östlichen Republiken des Riesenreiches.

 

Der sogenannte Putsch der Alt-Kommunisten in Moskau im August 1991 - die dilettantische Durchführung ließ an einem wirklichen Putschwillen zweifeln – gaben den Unabhängigkeits-Bestrebungen von Moskau in den 15 Sowjetrepubliken einen neuen starken Schub.

In der Ukraine fand am 1. Dezember 1991 bei einer Wahlbeteiligung von 84 Prozent eine zweite Abstimmung für eine unabhängige Ukraine statt. Nun stimmten 92 Prozent der Ukrainer für die Unabhängigkeit.

Auffällig ist, dass es bei der Abstimmung in der Ukraine die meisten Nein-Stimmen gegen die Unabhängigkeit schon damals auf der Krim sowie in den Gebieten Odessa, Donezk, Lugansk und Charkow gab. In diesen Gebieten wurde vorwiegend Russisch gesprochen und es gab starke wirtschaftliche Verflechtungen mit Russland. 

Das Unabhängigkeitsstreben der 15 Sowjetrepubliken damals zielte auf mehr Selbstbestimmung und Selbstverwaltung, richtete sich – außer in den baltischen Staaten - allerdings nicht gegen die wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit mit Russland, wie das heute in der Ukraine der Fall ist. Und auch nach dem geheimen Treffen am 8. Dezember 1991 im weißrussischen Sanatorium „Beloweschskaja Puschtscha“, auf der die Führer von Russland, der Ukraine und Weißrussland – Boris Jelzin, Leonid Krawtschuk und Stanislaw Schuschkewitsch - die Auflösung der Sowjetunion beschlossen, wurden nicht alle Verbindungskanäle gekappt. Zeitgleich wurde eine „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ gegründet. Sie sollte sicherstellen, dass man über Grundfragen der Wirtschafts-, Sozial- und Sicherheitspolitik weiter in Kontakt blieb.

Die Ukraine hatte - mit ihrem Territorium von 1991, von den Karpaten bis zum Donbass - niemals als eigenständiger Staat existiert. Dieses Territorium zusammenzuhalten, von denen einzelne Teile im Westen (Galizien), Süden (die Krim) und Osten (Teile von Lugansk) erst 1939, 1954 und in den 1920er Jahren von Stalin, Chrutschow und Lenin zum Territorium der Ukraine hinzugefügt wurden, bedurfte besonderer Staatskunst.

Eine von der Bertelsmann-Stiftung 2003 veröffentlichte Untersuchung beschreibt die Schwierigkeiten der Nationenbildung zutreffend. „Die Anfangsphase der unabhängigen Ukraine war in erster Linie von der nationalen Konsolidierung geprägt. Ein Schlüsselfaktor war dabei die Erhaltung der nationalen Einheit trotz der regionalen und ethnischen Unterschiede zwischen der sowjetrussisch geprägten Ostukraine, der eigentlichen Kern-Ukraine im Westen sowie der historisch zu Russland zählenden Krim.“ (Bertelsmann Transformation Index 2003 http://bti2003.bertelsmann-transformation-index.de/158.0.html)

Das ehemalige Galizien wie ein Stachel im Fleisch

Die Ukraine mit ihren unterschiedlichen Traditionen, Sprachen und Kulturen als gemeinsamen Staat zu erhalten, gelang nur, solange der Westen kein Exklusivrecht auf Einfluss in der Ukraine beanspruchte. Doch die 2014 von der EU geforderte Entscheidung, EU-Assoziation oder Zollunion mit Russland, verstärkte die politische und kulturelle Spaltung des Landes und begünstigte die Entwicklung hin zum Bürgerkrieg.

Die ukrainischen Präsidenten Krawtschuk, Kutschma und Janukowitsch, welche die Ukraine von 1991 bis 2004 und von 2010 bis 2014 leiteten, hatten erkannt, dass die Ukraine als Staat nur mit guten Beziehungen zu Russland und zur EU überleben kann. Die drei Präsidenten hofften von der EU und von Russland profitieren zu können und machten eine Schaukelpolitik, die sowohl der EU als auch Russland das Gefühl gab, in der Ukraine mitreden zu können.

Doch die nationalistischen Kräfte in der Ukraine, die von der ukrainischen Diaspora in Kanada und den USA stark unterstützt wurden, waren nicht an einem Status quo interessiert. Schon Ende der 1980er Jahre, zu Zeiten von Gorbatschows Perestroika, gründeten sich in der westukrainischen Stadt Lviv (Lemberg) verschiedene ukrainisch-patriotische Organisationen. Das Spektrum reichte von der gemäßigten Dissidenten-Vereinigung „Ruch“ über die ultranationalistische Versammlung der ukrainischen Nationalisten UNA mit ihre militärische Arm UNSO bis hin zu der 1991 gegründeten Sozial-Nationalen Partei der Ukraine, die nazistisches Gedankengut vertrat und sich aus taktischen Gründen 2004 in „Swoboda“ („Freiheit“) umbenannte.

Einer der Gründungsmitglieder der National-sozialen Partei war Andrej Parubi. Er war im Winter 2013/14 Kommandant des Maidan in Kiew. Regierungskritiker in Odessa vermuten, dass Parubi der Drahtzieher des Massakers von Odessa am 2. Mai 2014 war. Am 14. April 2016 wählten die Abgeordneten der Werchowna Rada Parubi zum Sprecher des ukrainischen Parlaments.

Historisch gehörte der äußerste Westen der heutigen Ukraine lange zur österreichisch-ungarischen Monarchie. 1918, nach dem Zerfall des Habsburger Reiches, fiel Galizien an Polen. Durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt und das geheime Zusatzprotokoll fiel der Großteil Galiziens dann 1939 an die Sowjetunion.

Wer begreifen will, warum es heute in der Ukraine ein hohes Maß von Gewalt gegen Andersdenkende gibt, warum Krieg gegen die eigenen Landsleute im Osten geführt wird und warum es gegen die anti-russische, nationalistische Aufheizung der Gesellschaft im Land so wenig öffentlichen Widerstand gibt, muss vier Schlüsselprobleme berücksichtigen, die sich bereits in den 1990er Jahren andeuteten.

1. Oligarchisierung

 Den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft im Galopp überlebten viele Fabriken nicht. Sie gingen pleite. Auch der Staat hatte kein Geld mehr. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Sowjetrepubliken brachen zusammen. Fabriken wurden massenweise geschlossen. Es begann eine wilde Privatisierung. Ihre neuen Firmen registrierten die neuen ukrainischen Millionäre in westeuropäischen Offshore-Zonen. Dem Staat fehlten die Steuereinnahmen. Die politische Macht ging auf Oligarchen über, die sich Abgeordnete für mehrere Zehntausend Dollar regelrecht kauften. In den 2000er Jahren wurde es zur Praxis, dass Politiker für die Teilnahme an Demonstrationen auch Geld zahlten.

2. Verarmung

Gegen niedrige Löhne, mangelnden Arbeitsschutz und Verarmung gab es in den 1990er Jahren immer wieder Streiks und Demonstrationen von Bergarbeitern aus der Ostukraine. Doch an der Macht der Oligarchen konnten diese Aktionen nichts ändern. Die größten Profite machten damals die Stahlunternehmen im Donbass, welche Stahl ins Ausland exportierten.

Die öffentliche Infrastruktur in der Ukraine zerfiel allmählich. Ich erinnere mich an meine Besuche in Kiew 1997. Zu einer Freundin, die im nördlich des Kiewer Stadtzentrums gelegenen Bezirk Obolon in einem Mehrfamilienhaus mit 100 Wohnungen lebte, gelangte ich nur, wenn ich bis in den elften Stock Treppen stieg. Weil die Stromrechnung für den Lift nicht bezahlt war, hatte die Stromgesellschaft den Lift abgeschaltet.

Auf den Straßen Kiews sah man damals viel Armut. Im Herbst standen damals Frauen trotz bitterer Kälte auf Freiluftmärkten und verkauften den ganzen Tag über Butter, Käse, Eingemachtes und Kleidung.

Nach Angaben der russischen Migrationsbehörde gab es 2009 3,6 Millionen Ukrainer, die in Russland arbeiteten, davon der Großteil nicht legal. Wie viele Ukrainer genau in der EU arbeiten, ist nicht bekannt. Doch die Weltbank geht davon aus, dass fast 15 Prozent der Ukrainer zumindest zeitweise im Ausland gearbeitet haben.

3. Ukrainisierung

An Stelle der vom Staat verordneten kommunistischen Ideologie trat in den 1990er Jahren ein vom Staat verordneter ukrainischer Patriotismus, zunächst in einer gemäßigten, dann in einer anti-russischen Ausprägung.

Linke Ukrainer berichten, dass Anfang der 1990er Jahre, nach dem ersten Schock in der Bevölkerung über die zunehmende Verarmung, eine Renaissance für die Kommunistische Partei drohte, weshalb die neuen Oligarchen auf eine nationale Ideologie setzten.

Die Kader, welche die neue Ideologie in den Medien, Schulen und Universitäten verbreiteten, waren nicht nur altgediente Ultranationalisten aus der Westukraine, sondern auch ehemalige Komsomol-Funktionäre und KPdSU-Mitglieder.

+ Die bekannte Politikerin der rechtsradikalen Partei Swoboda Irina Farion beispielsweise war von 1988 bis 1991 Mitglied der KPdSU und als Philologin Leiterin eines Kreises für „marxistisch-leninistische Ästhetik“ an der Universität von Lviv.

+ Der heutige Vorsitzende des ukrainischen Sicherheitsrates, Aleksandr Turtschinow, der Russland schon mal mit einer „schmutzigen Bombe“ drohte, war von 1987 bis 1990 Sekretär des Kommunistischen Jugendverbandes Komsomol und danach Leiter der Abteilung für Agitation und Propaganda des Komsomol in der Stadt Dnjepropetrowsk.

Nach ihrer Umbenennung von „Sozial-nationale Partei der Ukraine“ in „Swoboda“ (Freiheit) konnten die ukrainischen Rechtsradikalen 2012 ihren ersten großen Wahlerfolg in der Ukraine erringen. Bei den Parlamentswahlen erhielt Swoboda 10,44 Prozent der Stimmen. In den drei Gebieten Lviv, Ternopil und Iwano-Frankiwsk, die früher zu Galizien gehörten, erhielt „Swoboda“ sogar zwischen 31 und 38 Prozent. Zu den wenigen Zeitungen, die von diesem Durchbruch der Rechten wenigsten mit einer Kurznotiz berichteten, gehörte die Frankfurter Rundschau.

Die Umschreibung der Geschichte

Die „Ukrainisierung“ bekam nach der orangenen Revolution von 2004, welche Viktor Juschtschenko als Präsidenten an die Macht brachte, einen neuen Schub.

Unter Juschtschenko wurden kaderpolitische Weichen zu Gunsten einer Ukrainisierung gestellt. Um in Odessa das Übergewicht von russischer Kultur und Tradition zu brechen, wurde ein bestimmter Anteil von Studienplätzen an den Universitäten der Hafenstadt für Studenten aus der Westukraine reserviert. Hohe Posten in der Verwaltung der Stadt wurden mit Beamten aus der West-Ukraine besetzt.

Ein wichtiger Baustein der nationalistischen Politik von Juschtschenko wurde der Gedenktag an die große Hunger-Katastrophe, bei der in der Ukraine in den Jahren 1932 und 1933 mehrere Millionen Menschen starben. Das kleine, schlichte Golodomor-Denkmal, welches im Kiewer Stadtzentrum 1993 aufgestellt worden war, reichte Juschtschenko nicht. 2008 weihte er einen großen Golodomor-Gedenkkomplex in Kiew ein.

Obwohl es Anfang der 1930er Jahre Hungersnöte in Folge der Zwangskollektivierung auch im südrussischen Kuban-Gebiet und in Nord-Kasachstan gegeben hatte, bekam unter Präsident Juschtschenko die These vom „Moskauer Genozid“ gegen das ukrainische Volk offiziellen Status.

Doch gegen die „Ukrainisierung“ regte sich Widerstand im Südosten der Ukraine. 2001 wurde in Donezk die Partei der Regionen gegründet. Die Hauptforderung der Partei war die Einführung von Russisch als zweiter offizieller Staatssprache.

Nachdem Janukowitsch 2010 Präsident geworden war, wurde 2012 ein Gesetz über Regionalsprachen erlassen. Das Gesetz sah vor, dass wenn in einer Region eine Sprache von über zehn Prozent der Bevölkerung gesprochen wird, diese Sprache zur zweiten offiziellen Sprache wird.

Unmittelbar nach dem Staatsstreich in Kiew, am 23. Februar 2014, wurde das Regionalsprachengesetz von der Rada abgeschafft. Die Abschaffung wurde dann aber – offenbar wegen Kritik aus dem Westen -auf Eis gelegt. Es fehlt bis heute die Unterschrift des Parlamentssprechers unter das Gesetz.

Bei der Präsidentschaftswahl im Mai 2014 zeigte sich, auf welch schwachen Füßen die neue Macht in Kiew stand. Während die Wahlbeteiligung im äußersten Westen der Ukraine bei 80 Prozent lag, beteiligten sich im gesamten Südosten der Ukraine nur zwischen 50 und 55 Prozent der Berechtigten an der Wahl.

Verzweifeltes Abschütteln von 74 Jahren Geschichte

In der Ukraine läuft seit dem Staatsstreich 2014 ein Prozess der „Dekommunisierung“. Nachdem erst spontan kommunistische Denkmäler von Radikalen gestürzt wurden, legalisierte das Parlament diesen Prozess im Mai 2015 mit dem Gesetz „Über die Verurteilung kommunistischer und nationalsozialistischer (nazistischer) totalitärer Regimes und das Verbot der Propaganda ihrer Symbole“. Das Gesetz sieht vor, dass zahlreiche Denkmäler abgebaut sowie Orte und Straßen mit den Namen von KP-Funktionären oder abstrakten Bezeichnungen wie „Sozialistische Revolution“ umbenannt werden müssen. Sowjetische Symbole, wie Hammer und Sichel, dürfen nicht mehr gezeigt werden. Abgebaut werden müssen nach dem Gesetz auch Denkmäler zum Gedenken an führende Wissenschaftler und Kulturschaffende, welche „das kommunistische Regime unterstützten“.

Nach der Einschätzung des ukrainischen Instituts zum nationalen Gedenken müssen 76 Städte und 795 Dörfer umbenannt werden. Zwei Gebietszentren sind ebenfalls betroffen. Die Stadt Dnjepropetrowsk mit ihren 900.000 Einwohnern wurde Mitte Mai von der Werchowna Rada in „Dnjepr“ umbenannt. Die Stadt Kirowograd soll in „Ingulsk“ umbenannt werden.

Doch elf Rada-Abgeordneten reichen die Umbenennungen noch nicht. Sie haben einen Gesetzentwurf eingebracht, den 1. Mai und den 9. Mai (Sieg über den Nazismus) wieder zum Arbeitstag zu machen. Die Abgeordneten meinen, diese Feiertage seien „zu politisiert“ und nützten nur der „russischen Propaganda“.

In der West-Ukraine gibt es schon seit Jahren Straßen, welche die Namen der ukrainischer Nationalisten-Führer und Hitler-Kollaborateure Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch tragen. Seit Mai 2016 hat nun auch Kiew zwei solche Straßen. Der „Moskauer Prospekt“ und der „Prospekt General Watutina“ (General Watutin war ab 1943 Leiter der 1. Ukrainischen Front der Roten Armee) tragen jetzt die Namen von Bandera und Schuchewitsch.

Der extreme Nationalismus erschöpft sich nicht in Umbenennungen. Immer wieder werden auch Regierungskritiker, Politiker und Journalisten gewalttätig angegriffen und auch ermordet. Der herausragendste Fall ist der von Oles Busina. Der Kiewer Zeitungs-und Fernsehjournalist wurde am 16. April 2015 vor seiner Wohnung mit einer TT16-Pistole erschossen. Der Name des Journalisten war unmittelbar vor dem Mord auf der Website „Mirotworez“ aufgetaucht. Auf der Website stehen zur Zeit über 5.000 Namen – auch von vielen westlichen Journalisten, die sich in dem abtrünnigen Donezk akkreditiert haben. Die Website wird von Aleksandr Geraschenko, dem Berater des ukrainischen Innenministers, gefördert.

Busina trat für die Einheit der drei slawischen Nationen ein und machte sich über ukrainischen Nationalismus lustig. Nach seinem Mord gab es ein Bekennerschreiben der rechtsradikalen Organisation „UPA“. Der von Kiewer Gerichten gegen die beiden mutmaßlichen Mörder, die beiden Ultrarechten Denis Polischuk und Andrej Medwedko, verhängte Hausarrest wurde im März und Mai 2016 aufgehoben. Am 14. Juli 2015 wurde eine Gedenktafel am Haus des ermordeten Busina von drei Journalisten entfernt.

4. Brutalisierung

Der Maidan war 2013 zunächst eine friedliche Bewegung mit bis zu 100.000 Demonstranten, die für einen Assoziationsvertrag mit der EU demonstrierten. Aber nationalistische Schlägertrupps versuchten schon am 1. Dezember 2013 die Situation mit einem Sturm auf die Präsidialverwaltung anzuheizen.

Gewalt war in der Ukraine schon länger ein wichtiger Faktor geworden. Am 17. September 2000 war der Journalist Georgi Gongadse ermordet worden. Seinen enthaupteten Körper fand man in einem Wald 100 Kilometer von Kiew entfernt. Schlägereien im Parlament wurden – insbesondere wenn es um die Verlängerung des Vertrages über den russischen Flottenstützpunkt in Sewastopol ging - zur Normalität in der Werchowna Rada.

Die Gewalt schwappte in die Gesellschaft über. Am deutlichsten wurde das am 2. Mai 2014 in Odessa, als am Rande einer Straßenschlacht 17jährige Schülerinnen, geschmückt mit Tüchern in den ukrainischen Farben, ausgelassen und in aller Öffentlichkeit Molotow-Cocktails bauten.

Es wäre allerdings ganz falsch, die Ukrainer pauschal als ultranationalistisch oder faschistisch zu bezeichnen. Wenn die Kampfpilotin Nadeschda Sawtschenko von ukrainischen Medien gefeiert wird, heißt das noch nicht, dass der Großteil der ukrainischen Bevölkerung hinter Sawtschenko steht. Letztlich sind es in jeder Stadt nur ein paar Hundert oder ein paar Tausend Ultranationalisten, welche gewalttätig – allerdings von den Behörden gedeckt – gegen Regierungskritiker vorgehen und ein Klima der Angst verbreiten.

Statt EU-Mitglied nur noch Rohstoff-Lieferant

Die vier Faktoren: Oligarchisierung, Verarmung, Ukrainisierung und Brutalisierung erleichtern die jetzt beginnende wirtschaftliche Ausplünderung der Ukraine. Die Ukraine wird zu einer Art westlicher Kolonie ohne Hoffnung auf einen EU-Beitritt. Im März dieses Jahres schloss EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die von vielen Ukrainern erhoffte EU-Mitgliedschaft für die nächsten Jahrzehnte aus.

Die Ukraine wird von der EU erpresst. Wie die stellvertretende Ministerin für wirtschaftliche Entwicklung, Natalja Mikolskaja, Mitte Mai erklärte, wolle die EU die nächsten beiden Hilfspakete in Höhe von insgesamt 1,2 Milliarden Euro nur gewähren, wenn die Ukraine das Export-Verbot für Rundholz aufhebt. Erst im letzten Jahr hatte die Werchowna Rada zum Schutz der ukrainischen Holzverarbeiter ein zehnjähriges Moratorium für den Rundholz-Export beschlossen. Bis dahin ging fast das gesamte Rundholz in den Export.

In den letzten drei Jahren hat sich der brutale Kahlschlag in den Wälder im ukrainischen Teil der Karpaten massiv verstärkt, wie man auf Bildern sehen kann.

Julia Timoschenko, die immer wieder versucht, ihre auf 5,68 Prozent abgerutschte Partei „Vaterland“ mit sozialen Themen populärer zu machen, hat vor kurzem behauptet, Präsident Poroschenko habe mit dem IWF „einen Geheimpakt abgeschlossen“. Weitere Hilfe des IWF für die Ukraine werde es nur geben, wenn die ukrainische Regierung das Verbot für den Kauf von Land aufhebe und weitere Kürzungen im Bereich der Renten zulasse. Vorstellbar ist diese Behauptung. Doch Bestätigungen gibt es bisher nicht.

Schon vor zwei Jahren war bekannt geworden, dass US-Firmen Fracking-Rechte im Donbass bekommen sollten. Einer der Konzerne, der Förderrechte im Dnjepr-Becken hält, ist Burisma Holding. Im Mai 2014 wurde dort Hunter Biden, der Sohn des US-Vizepräsidenten Joe Biden, in den Vorstand geholt, als Leiter der Rechtsabteilung. Das Unternehmen ist der größte private Gasproduzent der Ukraine.

Sorgen, aber keine Selbstkritik im Westen

In westlichen Experten-Kreisen mehren sich seit einigen Monaten die Sorgen über die anhaltende Korruption in der Ukraine und die immer noch von Oligarchen gesteuerten Medien (siehe den Bericht von Reporter ohne Grenzen „Ernüchterung nach dem Euromaidan“). Die New York Times veröffentlichte einen besorgten Artikel über die vom Berater des ukrainischen Innenministers geförderte „Mirotworez“-Website mit ihren über 5.000 Namen von Journalisten aus aller Welt, die der Zusammenarbeit mit den „Separatisten“ verdächtigt werden.

Doch, dass der Westen das nationalistische Monster in der Ukraine durch seine kritiklose Unterstützung der Putsch-Regierung mit geschaffen hat, ist nicht Thema der Debatte.

Ulrich Heyden, Moskau, 04.06.16. Dieser Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages, der auf einer Veranstaltung zur Solidarität mit dem ukrainischen Journalisten Ruslan Kotsaba in Rostock gehalten wurde. Veranstalter waren DFG-VK, Rostocker Friedensbündnis und Connection e.V.

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