Ukraine - Phänomen Verweigerung

Schätzungsweise 140.000 ukrainische Männer im militärdienstpflichtigen Alter haben das Land verlassen. Bis Ende Juli haben die ukrainischen Behörden 5.000 Strafverfahren gegen Militärdienstentzieher und Deserteure eröffnet. Darüber hinaus gibt es 8.000 Verfahren wegen illegalen Grenzübertritts.

Die große Zahl der Militärdienstentzieher erstaunt. Sie widerspricht dem Bild, das in den Medien gezeichnet wird, dass die militärische Verteidigung der Ukraine im Land selbst große Zustimmung erfährt. Es wurde berichtet, dass sich sehr viele freiwillig meldeten. Nun müssen wir sehen, dass dies wohl nur ein Teil des Bildes ist.

Wir können über die Motive der Militärdienstentzieher und Verweigerer nur spekulieren. Sehr wenige waren bislang bereit, mit uns darüber zu reden. Wer es in die Europäische Union geschafft hat, kann hier einen zumindest befristeten humanitären Aufenthalt bekommen. Zudem sorgt die Medienberichterstattung wohl auch dafür, dass ukrainische Verweigerer nicht wagen in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Sie sehen sich als Verräter gebrandmarkt und unterlassen daher liebe jede Äußerung dazu..

Auch in den Verfahren in der Ukraine spiegelt sich die Verschärfung der Situation wider. Es gab dort mehrere Urteile gegen Kriegsdienstverweigerer. Zum Beispiel Dmytro Kucherov: Er hatte seine Kriegsdienstverweigerung gegenüber dem Militär erklärt, aber statt einer Anerkennung eine dreijährige Haftstrafe erhalten. Wer soll sich angesichts dessen noch trauen, offen seine Meinung dazu zu äußern?

Derzeit erhalten alle ukrainischen Staatsbürger, Frauen und Männer, Kinder, militärdienstpflichtig oder nicht, in der Europäischen Union einen befristeten humanitären Aufenthalt. Dies wurde von der Europäischen Union beschlossen und wird zumindest weitgehend umgesetzt. Der Status kann auf bis zu drei Jahre verlängert werden, also bis Ende Februar 2025. Danach wäre nach jetziger Lage der Dinge aber der Status beendet.

Eine Rückkehr wird auch dann für viele Militärdienstentzieher aus der Ukraine ein großes Risiko sein. Derzeit ist nicht absehbar, wie viele Strafverfahren bis dahin eröffnet sein werden. Aber es braucht – auch angesichts eines Krieges im eigenen Land – eine andere Umgehensweise mit dem Teil der Bevölkerung, der nicht der Regierungspolitik zum Krieg folgt. Für die Verweigerer notwendig ist ein wirklich umfassendes Recht auf Kriegdienstverweigerung, das jederzeit beantragt werden kann sowie eine Amnestie für die Flüchtigen. Solange eine sichere Rückkehr nicht garantiert ist, müssen ukrainische Verweigerer Flüchtlingsschutz in der Europäischen Union erhalten.

Connection e.V.: Ukraine – Phänomen Verweigerung. 20.9.2022. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Oktober 2022

Stichworte:    ⇒ Belarus   ⇒ Desertion   ⇒ Kriegsdienstverweigerung   ⇒ Militärdienstentziehung   ⇒ Russland   ⇒ Ukraine