Kriegsdienstverweigerung und Asyl

Aus dem EBCO-Jahresbericht 2022/23

Asyl für Kriegsdienstverweigerer – breite politische Unterstützung

Für die Gewährung von Asyl für Kriegsdienstverweigerer gibt es eine breite politische und rechtliche Unterstützung.

Die UN-Menschenrechtskommission erklärt im Absatz 7 ihrer Resolution 1998/77: "[Die Kommission] ermutigt Staaten, entsprechend dem Umstand des individuellen Falles, sofern dieser die anderen Bedingungen der Flüchtlingsdefinition nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 erfüllt, für jene Verweigerer aus Gewissensgründen, die gezwungen wurden, ihre Herkunftsländer aufgrund der Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Militärdienstverweigerung zu verlassen und es keine, oder keine angemessenen Rechtsvorschriften für Militärdienstverweigerer aus Gewissensgründen gibt, die Gewährung von Asyl zu erwägen."

Detaillierte Hinweise zur Anwendung des Flüchtlingsrechts in solchen Fällen unter Berücksichtigung der Fortschritte in der staatlichen Praxis, der internationalen Standards und der Rechtsprechung im Bereich der Menschenrechte wurden vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge zunächst in Form eines „Handbuchs“ herausgegeben,1 dessen Text aus dem Jahr 1979 stammt, aber zweimal unverändert neu aufgelegt wurde. Dieser wurde 2014 in Form von „Richtlinien“ erneut veröffentlicht2 und für die EU-Staaten durch die Qualifikationsrichtlinie 2004/83 ergänzt.

Das Thema erregte zur Zeit der Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren erstmals große Aufmerksamkeit. Sowohl das Europäische Parlament3 als auch die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE)4 verabschiedeten Resolutionen, in deren Folge viele Mitgliedsstaaten jenen Asyl gewährten, die vor den Jugoslawienkriegen flohen. Es lohnt sich, Ziffer 13 der PACE-Resolution zu zitieren, in der die Mitgliedstaaten aufgefordert werden:

"a. bei der Prüfung der Anträge auf Flüchtlingsschutz von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern aus dem ehemaligen Jugoslawien die ernsthafte Gefahr der Verfolgung zu berücksichtigen, der diese Personen bei einer Rückkehr ausgesetzt wären;

b. alle Asylanträge von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern aus dem ehemaligen Jugoslawien unter Bezugnahme auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und die Empfehlungen des Amtes des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, wie im Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Bestimmung eines Flüchtlingsstatus beschrieben, zu prüfen;

c. Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus dem ehemaligen Jugoslawien nicht abzuschieben oder auch nur mit Abschiebung zu drohen, bis eine Amnestie erlassen wurde und sie in völliger Sicherheit nach Hause zurückkehren können;

d. alle Fälle betreffend die Rückkehr von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern im Lichte von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu sehen, der besagt, dass ‚niemand der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf.‘"

In den folgenden Jahren gab es zahlreiche Fälle, in denen Kriegsdienstverweigerer – manchmal mit Hilfe von EBCO – erfolgreich politisches Asyl in EU-Mitgliedsstaaten beantragt haben. Wie bereits in früheren Berichten beschrieben, haben beispielsweise Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei Asyl in Frankreich, Deutschland und Italien erhalten (und man könnte auch Halil Savda hinzufügen der in Zypern Asyl erhalten hat, nachdem er aus der Türkei fliehen musste, weil er wegen seines Eintretens für Kriegsdienstverweigerung verfolgt wurde); Verweigerer aus Syrien und Eritrea sind bekannt, die in Deutschland Asyl erhielten; mindestens ein Südkoreaner in Frankreich und, vor der russischen Invasion, mindestens drei Kriegsdienstverweigerer aus der Ukraine in Italien. Leider gab es auch Misserfolge; zuletzt gab es diesbezüglich den gut begründeten Fall eines Kriegsdienstverweigerers aus Aserbaidschan, dessen Asylantrag in Belgien im Jahr 2020 abgelehnt wurde.

Asyl und Kriegsdienstverweigerung im aktuellen Krieg in der Ukraine

Im letzten Jahr ist diese Frage derart stark in den Vordergrund getreten, dass sie den jugoslawischen Präzedenzfall in den Schatten stellen könnte. Nun gibt es viele tausend Asylanträge von Personen, die den Dienst im Krieg in der Ukraine vermeiden wollen.

Nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 gab es eine dreifache Reaktion der Ukraine auf die Kriegsdienstverweigerung. Eine allgemeine Mobilisierung wurde erklärt; die bestehenden Militärdienstbestimmungen (einschließlich einer Regelung zum Alternativen Dienst für Kriegsdienstverweigerer, die bedauerlicherweise unzureichend ist und nur Mitgliedern von zehn bestimmten Religionsgemeinschaften zur Verfügung steht, die insgesamt nur 1,3% der nationalen Bevölkerung ausmachen) wurden suspendiert, und allen Männern unter 60 Jahren wurde untersagt das Land zu verlassen – oder umzuziehen.

In Russland startete nach der Invasion die Rekrutierung zum Militär zunächst mittels Frühjahrs- und Herbsteinberufungen junger Männer, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten. Kriegsdienstverweigerer konnten einen alternativen Zivildienst beantragen, unter Bedingungen, die im Vergleich zu denen des Militärdienstes Strafcharakter aufwiesen. Am 21. September 2022 kündigte Präsident Putin jedoch eine „Teilmobilisierung der Reserve“ an (begleitet von einer Verschiebung der regulären Herbsteinberufung um einen Monat). Obwohl dies angeblich nur ausgebildetes Militär und Personal mit entsprechenden Fähigkeiten betreffen sollte, zeigen alle Berichte, dass sie wahllos umgesetzt wurde und dass viele Personen einberufen wurden, die nie Militärdienst geleistet hatten. Im Widerspruch zu internationalen Standards, da dies als Rekrutierung der Reserve deklariert worden ist, wurde keine Möglichkeit eines alternativen Zivildienstes zur Verfügung gestellt. 

Auch Belarus ist betroffen. Es hat die russische Aktion offen unterstützt und sein Territorium für den Beginn der Invasion zur Verfügung gestellt. Bisher wurde es nicht direkt in den Konflikt hineingezogen, oder eine ähnliche Mobilisierung wie in Russland angekündigt, aber beides ist nach wie vor möglich. Noch am 16. Februar 2023 wurde der belarussische Präsident Lukaschenko von Reuters zitiert: „Ich bin in einem Fall bereit, mit den Russen aus dem Territorium von Belarus heraus zu kämpfen: Wenn nur ein Soldat auf das Territorium von Belarus kommt, um mein Volk zu töten. Wenn es eine Aggression gegen Belarus gibt, wird es eine scharfe Antwort geben, und der Krieg wird eine völlig andere Natur annehmen.“ Und bereits im Februar 2021 wurde, wie bei Russen in der neuen Mobilisierung, ein belarussischer Zeuge Jehovas, Dimitry Mozol, dafür bestraft, dass er die Einberufung zum Reservedienst verweigerte, obwohl er zuvor keinen Militärdienst geleistet hatte und somit die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nicht beantragen konnte.

Als konservative Schätzung berechnete Connection e.V. im September 2022, kurz nach der Ankündigung der neuen Mobilisierung, dass mehr als 150.000 militärdienstpflichtige Männer Russland verlassen hatten, mehr als 145.000 die Ukraine und mehr als 22.000 Belarus. Die Zahl für die Ukraine wurde im Februar 2023 auf 175.000 aktualisiert;5 andere Quellen schätzen, dass vielleicht bis zu 700.000 Menschen, hauptsächlich Männer, versuchten, die Rekrutierung zu vermeiden und Russland im Monat nach der Erklärung der Mobilisierung verließen. Dies verdeutlicht, dass der Schätzwert von 150.000 Menschen aus Russland wahrscheinlich sehr stark nach oben korrigiert werden muss. Zu diesem Zeitpunkt ist es unmöglich zu sagen, wie viele dieser Fälle letztendlich zu Asylanträgen führen werden. Es muss jedoch betont werden, dass es letztendlich nicht um Zahlen geht. Die Rückkehr jedes Menschen gegen seinen Willen zur Rekrutierung in den Krieg ist eine Tragödie.

Kurz nach der russischen Invasion verabschiedete die EU den Beschluss 2022/3826, demzufolge allen vertriebenen Einwohnern der Ukraine und ihren Familien eine Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr erteilt werden sollte – ein Zeitraum, der je nach den Umständen zweimal um weitere sechs Monate verlängert werden könnte, um Entscheidungen über den Flüchtlingsstatus zu vertagen. Es scheint jetzt klar, dass dieser Zeitraum verlängert werden muss. Dieser Schutz gilt weiterhin gleichermaßen für Männer im „militärdienstpflichtigen Alter“, denen es gelungen ist, die Ukraine zu verlassen. Kriegsdienstverweigerer werden jedoch mehr als vorübergehenden Schutz benötigen, denn selbst wenn sie erst nach Ende der Feindseligkeiten zurückkehren werden, würden sie noch bestraft – bis zu drei Jahre Haft für die Verweigerung der Einberufung und bis zu zwölf Jahren, in denen die Verweigerung erst nach der Rekrutierung erfolgte. Über alle formellen Strafen hinaus werden Männer, die außerhalb des Landes geblieben sind, bei der Rückkehr wahrscheinlich einer erheblichen allgemeinen sozialen Verfolgung ausgesetzt sein.

Für die Russen besteht das größte Problem darin, einen Ort zu erreichen, von dem aus ein EU-Asylantrag gestellt werden könnte. Zum Zeitpunkt der Mobilisierung gab es keine Direktflüge mehr, und die Mitgliedstaaten mit Landesgrenzen zu Russland hatten diese für alle Russ*innen gesperrt. Um in die EU zu kommen, bedarf es einer umständlichen Reise, die normalerweise mit der Ankunft in Kasachstan, Georgien oder Türkei beginnt –für russische Bürger*innen gibt es außerdem kein Recht zur Einreise. Und es gibt das zusätzliche Problem der Dublin-Abkommen, die verlangen, dass ein Asylantrag im ersten EU-Staat gestellt werden muss, den der Betreffende erreicht hat.

Kriegsdienstverweigerer, die nachweisen können, dass sie bei der Rückkehr in die Ukraine, nach Russland oder Belarus rekrutiert werden, sollten automatisch Asyl erhalten. Sie werden verfolgt, folgendermaßen definiert in den UNHCR-Richtlinien (Abs. 18): „Wäre die Person zum Beispiel gezwungen, gegen ihr Gewissen Militärdienst zu leisten oder an Kampfhandlungen teilzunehmen, oder läuft sie Gefahr, wegen ihrer Weigerung der Strafverfolgung oder einer unverhältnismäßigen oder willkürlichen Bestrafung ausgesetzt zu werden, liegt Verfolgung vor.“

Es ist irrelevant, ob in Russland ein großer Teil der gegenwärtigen Rekrutierung als „Mobilisierung“ bezeichnet wird, und in der Ukraine alles: Entscheidend ist der obligatorische Charakter der Rekrutierung, die eine Verfolgung darstellt. Auch sind Personen, die bereits Militärdienst geleistet haben und als Reservisten einberufen werden wie auch Deserteure, die (wie in diesen Staaten) keine Gelegenheit haben, aus Gewissensgründen die Entlassung zu beantragen, vom Schutz als Kriegsdienstverweigerer ausgeschlossen. In Absatz 10 der Richtlinien wird daran erinnert, dass das Recht „auf Verweigerung aus Gewissensgründen absoluten, teilweisen und selektiven Verweigerern zu(steht), Freiwilligen ebenso wie Wehrpflichtigen, vor oder nach ihrem Eintritt in die Streitkräfte, in Friedenszeiten wie in Zeiten des bewaffneten Konflikts. Es schließt die Verweigerung von Militärdienst aus moralischen, ethischen, humanitären oder ähnlichen Motiven ein.“ Gemäß Artikel 20 der Richtlinien erstreckt sich der Schutz auch auf diejenigen, die in Russland und Belarus Zugang zum alternativen zivilen Dienst gehabt hätten, da die Regelungen in beiden Ländern vom UN-Menschenrechtsausschuss als Strafcharakter eingestuft wurden.

Eine solche Verfolgung könnte fast immer auf der Grundlage von Religion definiert werden, die nach der Qualifikationsrichtlinie „insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen (umfasst), die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder  einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind“ (Artikel 10.1b).

Es kann jedoch auch festgestellt werden, dass Kriegsdienstverweigerer aufgrund der wahrgenommenen politischen Meinung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zur Verfolgung ausgewählt werden. „Selektive Verweigerer“ der russischen Invasion in der Ukraine würden sicherlich in die vorherige Kategorie fallen, aber es ist zu argumentieren, dass in den Augen des Staates die Kriegsdienstverweigerung oder der Pazifismus, auf dem sie basiert, oft als politische Position angesehen wird.

In Bezug auf die Mitgliedschaft zu einer bestimmten sozialen Gruppe heißt es in der EU-Richtlinie: „Eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.“ (Artikel 10.1d). Im Kontext des aktuellen Konflikts könnten Kriegsdienstverweigerer, die ihr Land verlassen haben, sicherlich alle Anforderungen dieser Definition erfüllen.

„Asylanträge aus Gründen des Militärdienstes können auch auf der Ablehnung (i) eines konkreten bewaffneten Konflikts oder (ii) der Mittel und Methoden der Kriegsführung [des Verhaltens einer Konfliktpartei] beruhen. Ersteres bezieht sich auf die unrechtmäßige Anwendung von Gewalt [jus ad bellum], Zweiteres auf die im humanitären Völkerrecht sowie durch die Menschenrechtsnormen und das Strafrecht geregelten Mittel und Methoden der Kriegsführung [jus in bello]. Insgesamt bezieht sich die Weigerung auf den Zwang, an Konfliktaktivitäten teilzunehmen, die nach Ansicht der Antragstellenden nicht mit den Grundregeln menschlichen Verhaltens vereinbar sind.“ (UNHCR-Richtlinien, Absatz 21).

Im Handbuch stand bereits: "Wenn (...) die Art der militärischen Aktion, mit der sich der Betreffende nicht identifizieren möchte, von der Völkergemeinschaft als den Grundregeln menschlichen Verhaltens widersprechend verurteilt wird, (…) könnte die Strafe für Desertion oder für Nichtbefolgung der Einberufung als Verfolgung angesehen werden." (Absatz 171)

Klassische Fälle, die nach diesen Prinzipien entschieden wurden, waren die von Ciric in Kanada 1994 in Bezug auf die Jugoslawienkriege,7 und, in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit, in Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt zu werden, Krotov in Großbritannien im Jahr 2004, über einen Deserteur der russischen Armee in Tschetschenien.8

Es sei auch darauf hingewiesen, dass in Fällen, in denen die Rechtswidrigkeit „objektiv“ festgestellt wird, die Verweigerung nicht unbedingt auf Gewissensgründe gestützt werden muss, obwohl solche Argumente in der Praxis in der Regel den Fall stärken. Da sich insbesondere eine Person, die Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, nicht auf die Befehlsnotstand berufen kann und automatisch von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, ist es logisch, dass diejenigen, die tatsächlich Gefahr laufen, unter Androhung von Strafe gezwungen zu werden, sich direkt oder indirekt an solchen Verbrechen zu beteiligen, aus solchen Gründen Anspruch auf Flüchtlingsschutz haben.

Wer sich gegen eine Beteiligung an der russischen Invasion in der Ukraine ausspricht, kann als Beweis für die internationale Verurteilung ohne Weiteres den Beschluss des EU-Rates vom Tag der Invasion anführen, gefolgt von den Resolutionen der UN-Generalversammlung vom 2. März 2022 mit dem Titel "Aggression gegen die Ukraine" und vom 23. Februar 2023, in denen "ein Ende des Krieges und der sofortige Rückzug Russlands aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine" gefordert wird, und die Resolution 2051 des Europäischen Parlaments vom 6. Oktober 2022 zu "Russlands Eskalation seines Angriffskriegs gegen die Ukraine" sowie zahlreiche Beweise für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, z.B. im Bericht der Untersuchungskommission, die zwischen dem 1. April und dem 25. Juni 2022 von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa durchgeführt wurde.9

Allerdings war es für Kriegsdienstverweigerer noch nie einfach, den Flüchtlingsstatus zu erhalten, und ein Erfolg ist nie garantiert. Die entscheidenden Tatsachenfeststellungen in den einzelnen Fällen und die Anwendung der Richtlinien werden von den nationalen Behörden vorgenommen, die notorisch zögerlich sind, Asyl zu gewähren, wenn sie irgendein Argument finden, das dagegen spricht. Sie können in Frage stellen, ob die Verweigerung „ernsthaft“ ist, ob die Furcht vor Verfolgung tatsächlich „begründet“ ist, oder über die „objektive“ Situation im Hinblick auf die Legalität oder die Wahrscheinlichkeit einer Rekrutierung. Insbesondere in einer Situation, die sich so schnell entwickelt wie die gegenwärtige, können sie ihre Urteile auch auf veraltete „Herkunftsland“-Informationen stützen – so stammt beispielsweise der jüngste Leitfaden des britischen Innenministeriums zu Russland vom August 2022 und enthält nur begrenzte Informationen über die Entwicklungen seit dem Einmarsch in der Ukraine. Glücklicherweise veröffentlichte die Asylagentur der Europäischen Union im Dezember 2022 aktualisierte Leitlinien zum Militärdienst in der Russischen Föderation, die unschätzbare Belege für den allgemein wahllosen Charakter der jüngsten Mobilisierung enthält, aber auch für die Tendenz, dass diese gezielt benachteiligte Minderheiten trifft sowie diejenigen, die das Land verlassen wollen. Die Leitlinien liefern auch Belege dafür, dass trotz offizieller politischer Erklärungen Kriegsdienstpflichtige in großem Umfang in die Ukraine entsandt wurden, wobei sie manchmal nach einer viermonatigen Ausbildung dazu überredet wurden, einen Militärdienstvertrag zu unterzeichnen, und damit als Berufssoldaten eingestuft wurden. Sie dokumentieren auch die Zustände in den russischen Streitkräften, die ebenso wie die in russischen Gefängnissen starke Argumente gegen eine Rückführung der Betroffenen liefern können, unabhängig davon, ob Asyl gewährt wird oder nicht.

Bisherige Rechtsprechung von Einzelfällen ist uneinheitlich

Anfang März 2022 ergänzte der italienische Kassationshof die dortige Rechtsprechung, indem er eine Entscheidung des Turiner Gerichts aus dem Jahr 2020 aufhob, einem 2017 eingereisten Kriegsdienstverweigerer aus der Ukraine den Flüchtlingsstatus zu verweigern. Der Kassationsgerichtshof stellte nicht nur fest, dass selbst die damals geltenden Rechtsvorschriften zur Kriegsdienstverweigerung (die natürlich inzwischen ausgesetzt wurden) völlig unzureichend waren; Er stellte außerdem fest, dass es in dem andauernden, angeblich zivilen Konflikt vor der russischen Invasion „von beiden Seiten begangene Verletzungen und Kriegsverbrechen" gab, und entschied, dass „ein Kriegsdienstverweigerer, der sich weigert, in der Armee seines Herkunftslandes zu dienen, den Status eines politischen Flüchtlings erhalten muss, wenn seine Einberufung das Risiko mit sich bringt, auch nur indirekt in einen Konflikt verwickelt zu werden, der durch die Begehung von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichnet ist, oder dies sehr wahrscheinlich ist.“10

Im Gegensatz dazu hatten deutsche Gerichte schon vor dem russischen Einmarsch alle Anträge ukrainischer Kriegsdienstverweigerer abgelehnt. Und obwohl das Innenministerium im Mai 2022 erklärt hatte, dass russische Deserteure in der Regel die Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft (politische Verfolgung) erfüllen, galt diese Feststellung nicht zwangsläufig auch für Kriegsdienstverweigerer.11 So lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Ende Januar 2023 den Asylantrag eines Russen ab, der sich einer möglichen Rekrutierung entzogen hatte, und schrieb im Bescheid: „Allerdings ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Antragsteller, ein (über 40-jähriger) Staatsangehöriger der Russischen Föderation, der nach seinen Angaben keinen Wehrdienst abgeleistet hat und damit nicht über militärische Vorkenntnisse und auch sonst nicht über (militärisch relevante) Spezialkenntnisse verfügt, überhaupt gegen seinen Willen zwangsweise zu den Streitkräften eingezogen würde. Gemäß § 22 des föderalen Gesetzes ‚Über die Wehrpflicht und den Militärdienst‘ werden alle männlichen russischen Staatsangehörigen im Alter zwischen 18 und 27 Jahren zur Stellung für den Pflichtdienst in der russischen Armee einberufen. Aus den vorliegenden Erkenntnismittel ergibt sich nicht, dass die Russische Föderation aus Anlass des Krieges mit der Ukraine über die genannte Altersgruppe hinaus im Rahmen einer Teil- oder Generalmobilmachung weitere Jahrgänge zu den Streitkräften einziehen würde oder eine solche Mobilmachung in absehbarer Zeit bevorstehen würde. Eine solche Mobilmachung wird auch sonst für unwahrscheinlich gehalten, insbesondere, da sie nicht mit dem russischen Narrativ einer nach Plan verlaufenden, begrenzten ‚Spezialoperation‘ zu vereinbaren und innenpolitisch kaum zu vermitteln wäre.“12 Diese Risikoeinschätzung mag auf der Grundlage der vor einem Jahr verfügbaren Informationen vernünftig erschienen sein, doch erscheint sie heute völlig veraltet.

Es ist daher wahrscheinlich, dass in jedem Fall mühsam einzeln argumentiert werden muss. EBCO ist bereit, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um den Antragstellenden mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und diejenigen, die über die Anträge entscheiden, davon zu überzeugen, dass sie sich weder über die Fakten noch über die Auslegung der bestehenden Richtlinien täuschen.

In der Zwischenzeit wären politische Unterstützungsbekundungen für Asylsuchende heute genauso hilfreich wie zur Zeit der Jugoslawienkriege, auch wenn sie für die entscheidenden Behörden nicht bindend sind.13

Aufrufe zum Schutz der Verweigerer und Deserteure

EBCO hat sich von Anfang an aktiv dafür eingesetzt, dass niemand, der geflohen ist, um sich der Beteiligung auf einer der beiden Seiten am Krieg zu entziehen – ob Kriegsdienstverweigerer, Deserteure oder andere – Gefahr laufen sollte, zurückgeschickt zu werden.

Im Juni 2022 haben wir gemeinsam mit War Resisters’ International, Connection e.V. und dem Internationalen Versöhnungsbund einen Appell an das Europäische Parlament und die Parlamentarische Versammlung des Europarates gerichtet, der von mehr als sechzig Organisationen aus zwanzig Ländern unterstützt wurde. Dieser Appell ruft zur Verabschiedung von Resolutionen auf, in denen die Mitgliedstaaten aufgefordert werden:

"- sicherzustellen, dass russische und belarussische Soldaten und Soldatinnen, die sich dem Einsatz im Militär und somit dem möglichen Kriegseinsatz in der Ukraine entzogen haben oder desertiert sind, in den Mitgliedsstaaten entsprechend der Qualifikationsrichtlinie Asyl gewährt wird;

- sicherzustellen, dass auch ukrainischen Kriegsdienstverweiger*innen, denen die Anerkennung in der Ukraine versagt wurde, wie auch Soldaten und Soldatinnen, die sich auf Seiten der Ukraine etwaigen völkerrechtswidrigen Handlungen entziehen, Schutz gewährt wird;

- die Mitgliedsstaaten aufzurufen, Programme und Projekte zu entwickeln, die Deserteur*innen und Militärdienstentzieher*innen Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildung bieten."

Am 21. September, dem Internationalen Tag des Friedens (ironischerweise genau der Tag, an dem Russland die neue Mobilmachung ankündigte), haben dieselben vier Organisationen öffentlich die #ObjectWarCampaign gestartet, die Bürgerinnen und Bürger auf der ganzen Welt dazu aufruft, sich den globalen Bemühungen anzuschließen, um Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren aus Russland, Belarus und der Ukraine, die in den aktuellen Krieg in der Region verwickelt sind, Schutz und Asyl zu gewähren. Sie verweisen unter anderem darauf, dass der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, am 6. April 2022 russische Soldaten zur Desertion aufgerufen und ihnen Schutz im Rahmen des Flüchtlingsrechts versprochen hatte – ein Versprechen, das bis heute nicht erfüllt wurde.

Es wurde eine Petition vorbereitet, die zusammen mit der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und der Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, an Charles Michel gerichtet ist. Der Text lautet wie folgt:

"Wir fordern Sie auf:

- Geben Sie Deserteuren und Verweigerern aus Belarus und der Russischen Föderation Schutz und Asyl!

- Fordern Sie die ukrainische Regierung auf, die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern einzustellen und ihnen ein umfassendes Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu garantieren!

- Öffnen Sie die Grenzen für diejenigen, die sich unter hohem persönlichen Risiko in ihrem Land gegen den Krieg stellen!“

In der Petition heißt es weiter: „Warum ist das wichtig? - Seit mehr als einem Jahr führt die Russische Föderation einen Angriffskrieg in der Ukraine, mit verheerenden Folgen. Es scheint kein Ende in Sicht. Dabei wissen wir, dass sich auf allen Seiten Männer und Frauen den Verbrechen des Krieges entziehen. Zehntausende verließen die Russische Föderation und Belarus um nicht für den Krieg rekrutiert zu werden. Tausende verließen die Ukraine, weil sie ihr Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung in Gefahr sehen. Sie alle sind unsere Hoffnung für eine Überwindung der Gewalt."

Das immer noch nicht eingelöste Versprechen des Präsidenten des Europäischen Rates wurde Ende September von der deutschen Innenministerin mit den Worten zitiert: "Wer sich mutig gegen das Regime von Präsident Wladimir Putin stellt und sich damit in große Gefahr begibt, kann in Deutschland Asyl wegen politischer Verfolgung beantragen", und fügte hinzu: "Deserteure, die von schwerer Repression bedroht sind, erhalten in Deutschland in der Regel internationalen Schutz.“ Frankreich hat ebenfalls angedeutet, dass es Anträge von Personen, die aus Russland fliehen, weil sie sich dem Krieg in der Ukraine widersetzen, wohlwollend prüfen würde – und welche Opposition kann effektiver sein als die Verweigerung des Kampfes?

Im Deutschen Bundestag hat die Fraktion Die Linke am 27. September 2022 den folgenden Antrag eingebracht: "Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sofort alle notwendigen Maßnahmen auf nationaler und europäischer Ebene zu ergreifen, damit russischen Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern, die sich dem Krieg in der Ukraine durch Flucht entziehen wollen, eine sichere Einreise in die EU bzw. nach Deutschland möglich ist und ihnen unkompliziert ein sicherer Schutz und Aufenthaltsstatus erteilt wird.“ Dieser wurde jedoch von einer großen Mehrheit der anderen Fraktionen abgelehnt.14

Dennoch bezieht sich der bisher einzige Hinweis des Europäischen Parlaments auf Asyl nur auf Russland und ist außerordentlich zurückhaltend formuliert. Der Absatz 13 der Entschließung 2051 vom 6. Oktober 2022 „fordert die Mitgliedstaaten auf, die Leitlinien der Kommission für die allgemeine Visumerteilung in Bezug auf russische Antragsteller und die Kontrolle russischer Staatsangehöriger an den Außengrenzen in vollem Einklang mit dem Unionsrecht und dem Völkerrecht vollständig umzusetzen und zu gewährleisten, dass jeder Asylantrag, der unter anderem von Dissidenten, Deserteuren, Wehrdienstverweigerern und Aktivisten gestellt wird, individuell bearbeitet wird, wobei den Sicherheitsbelangen des Aufnahmemitgliedstaats und dem Asyl-Besitzstand der Union Rechnung zu tragen ist; fordert den Rat und die Kommission auf, die Lage in Bezug auf Visa für russische Staatsangehörige genau zu überwachen.“

Wie die Organisationen der #ObjectWarCampaign in einer gemeinsamen Pressemitteilung zum Jahrestag der russischen Invasion in der Ukraine erklären, sind diejenigen die versuchen, aus ihren Ländern zu fliehen, um sich den Verbrechen des Krieges zu entziehen, unser aller Hoffnung, dass die Gewalt überwunden wird. „Deshalb sollte die Europäische Union allen Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern Schutz und Asyl gewähren! Die Union sollte die ukrainische Regierung auffordern, die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern einzustellen und ihnen ein uneingeschränktes Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu garantieren! Und die Europäische Union sollte die Grenzen für diejenigen öffnen, die sich unter großem persönlichen Risiko dem Krieg in ihrem Land widersetzen!“

Fußnoten

1 Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung von Flüchtlingen. Auszüge: https://de.connection-ev.org/article-342

2 Richtlinien zum internationalen Schutz, Nr. 10: Anträge auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus Gründen des Militärdienstes im Zusammenhang mit Artikel 1 (A) 2 des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 2014. https://www.refworld.org/cgi-bin/texis/vtx/rwmain/opendocpdf.pdf?reldoc=y&docid=5899bbb34

3 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, C 315 vom 22. November 1993, S. 234, Entschließung vom 28. Oktober 1993

4 Resolution 1042 vom 1. Juli 1994

5 Friedrich, R. “Germany: Federal Office for Migration rejects asylum for Russian refusers: Russia, Belarus, Ukraine: What about the protection of refusers?, 17th February 2023, Deutsch: https://de.connection-ev.org/article-3735

6 Durchführungsbeschluss 2022/382 - Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes, 4. März 2022

7 Ciric gegen Canada, Canadian Federal Court, A-877-92, 13. Dezember 1993

8 Krotov gegen Secretary of State for the Home Department, EWCA Civ69, 11. Februar 2004

9 OSZE, BDIMR, Bericht über die Verletzungen des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit, 14. Juli 2022

10 https://www.quotidianopiemontese.it/2022/03/06/la-cassazione-accoglie-la-richiesta-di-asilo-di- un-ucraino-fuggito-dal-donbass-per-evitare-larruolamento/

11 Beitrag für den EBCO-Bericht von EAK, Deutschland; der ursprüngliche Wortlaut des Beschlusses kann nachgelesen werden unter: https://de.connection-ev.org/pdfs/2022-05-17_IM.pdf

12 Friedrich, R., Connection e.V., a.a.O., https://de.connection-ev.org/article-3735

13 Es sei auch daran erinnert, dass die UN-Menschenrechtskommission mit Blick auf die Situation in Jugoslawien in einer Resolution die Staaten aufforderte, Kriegsdienstverweigerer in Amnestien nach Konflikten einzubeziehen. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts sind solche Amnestien jedoch weder in der Ukraine noch in Russland absehbar.

14 Beitrag für den EBCO-Bericht von EAK, Deutschland. Zitiert nach: Deutscher Bundestag Drucksache 20/3684, Abs. II, URL: https://dserver.bundestag.de/btd/20/036/2003684.pdf

European Bureau for Conscientious Objection: Annual Report. Conscientious Objection to Military Service in Europe 2022/23. Auszug zu “Conscientious Objectors and Asylum”, Seite 116ff. Übersetzung: Marah Frech. https://ebco-beoc.org/sites/ebco-beoc.org/files/attachments/2023-05-12-EBCO_Annual_Report_2022-23.pdf. 15. Mai 2023

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