Aktion in Frankfurt, 2023

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Länderportrait Russland

Militärdienst und Kriegsdienstverweigerung

(08.10.2023) In Russland besteht Militärdienstpflicht für alle Personen, die laut Pass als männlich gelten. Da wir drauf aufmerksam machen wollen, dass dazu auch Personen zählen, die nicht männlich sind oder sich nicht als solche identifizieren, verwenden wir eine geschlechtsneutrale Schreibweise.

In Russland besteht Militärdienstpflicht. Die entsprechenden Militärgesetze wurden seit dem Krieg in der Ukraine mehrmals geändert: So wurde die Militärdienstpflicht ausgeweitet und gilt mittlerweile für männliche Staatsbürger*innen zwischen 18 Jahren und 30 Jahren. Daneben können auch Reservist*innen und ehemalige Vertragssoldat*innen für einen Kriegseinsatz einberufen werden; für sie gilt seit Mai 2022 eine Altersgrenze von 65 Jahren. Frauen werden angeworben, sind aber bislang von diesen Regelungen ausgenommen, da sie in Russland nicht militärdienstpflichtig sind. Arbeiten sie in „kriegswichtigen“ Berufen wie beispielsweise im medizinischen Sektor, können sie rekrutiert werden (diese Regelungen können sich im Kriegsverlauf jederzeit ändern). Es ist nicht auszuschließen, dass bei Fortführung des Krieges auf eine größere Gruppe von Menschen zurückgegriffen wird und Ausnahmeregelungen wie Zurückstellungen aufgehoben werden. Auch die Einführung der Militärdienstpflicht für alle Staatsbürger*innen ist denkbar.

In der Russischen Föderation existiert das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, sodass jede Person theoretisch einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen kann. Allerdings ist in Russland ein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung nur bis zur Einberufung möglich; es gibt kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung für Reservist*innen und ehemalige Soldat*innen. Durch eine Militärgesetzesänderung wurde der Einsatz von Ersatzdienstleistenden im Militär möglich. In den Separatistengebieten wird zwangsrekrutiert und Verweiger*innen werden entweder an die Front geschickt oder inhaftiert. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gilt für sie nicht.

Rechtliche und soziale Konsequenzen der Kriegsdienstverweigerung

Wer sich der Einberufung widersetzt und nicht zum Militär geht, dem droht eine Bestrafung von mehreren Jahre Haft. Noch schärfer verfolgt wird eine Desertion, insbesondere während des Krieges. Zudem droht Kriegsdienstverweiger*innen – sollten sie es schaffen einer Einberufung zu entgehen – der „zivile Tod“: So sind Arbeitgebende beispielsweise verpflichtet, den Status des Militärdienstes von Arbeitnehmenden zu melden und werden für die Einstellung von Verweiger*innen bestraft. Zudem wird Verweiger*innen u.a. ein Auslands-Reisepass verweigert und sie dürfen keinen Führerschein machen.

Laut Mediazona hat sich die Anzahl der strafrechtlichen Ermittlungen gegen Kriegsdienstverweiger*innen durch russische Militärgerichte im Jahr 2023 gegenüber dem Jahr 2022 verdoppelt: Die Gerichte fällen derzeit rund 100 Urteile pro Woche, mit steigender Tendenz. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 2023 wurden 2.076 Fälle, in denen russische Soldat*innen ohne offizielle Erlaubnis abwesend waren, vor Gericht verhandelt (Art. 337 Abs. 5), hauptsächlich gegen mobilisierte Soldat*innen. Seit Oktober 2022 wird dies als Straftat während der Mobilisierung verfolgt und damit höher bestraft als in Zeiten des Friedens. In etwas mehr als der Hälfte der Fälle unerlaubter Abwesenheit vom Militärdienst werden Strafen zur Bewährung ausgesetzt. Diese ermöglicht, dass verurteilte Soldat*innen (erneut) in den Krieg geschickt werden. Zudem erhöht sich das Risiko für die Soldat*innen. Sie werden abhängiger von Offizier*innen, da diese die betroffenen Soldat*innen jederzeit melden können – und sich bei erneutem „Fehlverhalten“ die Bewährungsstrafe in eine tatsächliche Haftstrafe verwandeln würde.

Mitte September 2023 wurde die russische Soldatin Madina Kabalojewa vom Militärgericht der Garnison Wladikawkas zu sechs Jahren Haft verurteilt, da sie sich während der Mobilmachung nicht bei den Militärbehörden zurückgemeldet hat – trotz einer Befreiung vom Dienst, die aufgrund ihrer Schwangerschaft von der medizinischen Abteilung ihrer Militäreinheit ausgestellt worden ist. Die Vollstreckung des Urteils wurde bis 2032 aufgeschoben, da Madina Kabalojewa minderjährige Kinder hat. Die Berufung gegen das Urteil blieb ergebnislos.

Etwa zur gleichen Zeit wurde der 21-jährige Vertragssoldat Maksim Aleksandrovich Kochetkov von einem Militärgericht in Sachalin zu 13 Jahren Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis verurteilt, weil er sich geweigert hatte, in der Ukraine zu kämpfen und seine Einheit ohne Erlaubnis verlassen hat.

Teilmobilmachung & Rekrutierungen

Der Russische Angriffskrieg in der Ukraine begann im Februar 2022, sieben Monate später folgte die Teilmobilmachung der russischen Bevölkerung. Seit September 2022 sind tausende russische Staatsbürger*innen geflohen.

Daher kommt es seit der Teilmobilmachung regelmäßig zu Rekrutierungsversuchen durch Razzien. Zudem wurde das Rekrutierungsalter ausgeweitet, die Strafen bei Entziehung erhöht und weitere Militärgefängnisse gebaut. Mittlerweile gilt ein digitaler Einberufungsbescheid unmittelbar nach dem Absenden als zugestellt, während zuvor amtliche, persönlich zugestellte, Schreiben für die Erfassung, Musterung und Einberufung gesetzlich vorgeschrieben waren, d.h. die militärdienstpflichtige Person musste den Empfang mit einer Unterschrift bestätigen. Die Russische Föderation begann den Krieg als sog. „Sonderoperation“ und behauptete, dass keine Militärdienstpflichtigen in der Ukraine eingesetzt werden, sondern nur Vertragssoldat*innen. Mittlerweile weisen zahlreiche Beispiele jedoch darauf hin, dass Militärdienstpflichtige dazu genötigt wurden, Militärverträge zu unterschreiben und auf diese Weise in die Ukraine geschickt wurden. Uns erreichen auch Meldungen über die Fälschung von Verträgen durch das russische Militär.

Ausnahmeregelungen

Für die Rekrutierung gibt es in Russland eine Reihe von Ausnahmeregelungen, wie die Möglichkeit der Ausmusterung, die auch mittels Korruption häufig praktiziert wird. Es besteht die Möglichkeit, wegen einer Ausbildung oder eines Studiums zurückgestellt zu werden.

Weitere Informationen zur rechtlichen Situation in Russland finden sich in diesem Bericht des Internationalen Versöhnungsbunds (IFOR) und im Jahresbericht 2022/23 des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung (EBCO).

Flucht ins Ausland

Wir wissen, dass tausende Militärdienstpflichtige aus Russland geflüchtet sind, auch wenn sie eine wenig politisierte Gruppe darstellen. Es ist nicht möglich, genaue Zahlen über Desertion, Kriegsdienstverweigerung und Militärdienstentziehung zu erhalten. Zudem werden die Fluchtbewegungen durch das politische Klima und die Restriktionen gegen Oppositionelle beeinflusst, welche deutlich verschärft wurden. Viele Menschen protestierten zu Beginn des Krieges auf den Straßen oder in den Sozialen Medien gegen den Krieg und wurden dafür von der Polizei und den Sicherheitsbehörden verfolgt. Auch sie gehören daher zu den russischen Flüchtlingen. Ebenso Mitarbeitende internationaler Unternehmen, deren Geschäftstätigkeit in der Russischen Föderation eingeschränkt oder sanktioniert wurde. Für männliche Staatsbürger*innen zwischen 18 und 65 Jahren gilt darüber hinaus, dass sie als Militärdienstpflichtige immer auch mögliche Rekrut*innen darstellen, selbst wenn dies nicht der ursprüngliche Fluchtgrund ist.

Nach einer Schätzung waren bis September 2022 mindestens 150.000 Militärdienstpflichtige geflohen, inzwischen sind diese Zahlen noch einmal deutlich gestiegen. Im Juli 2023 veröffentlichte das oppositionelle russische Netzwerk für Analyse und Politik RE: Russia eine Studie zur Flucht aus Russland im Zeitraum vom 24. Februar 2022 bis Juli 2023. Nach dieser haben zwischen 820.000 und 920.000 Menschen Russland verlassen. Die überwiegende Zahl der Flüchtlinge verließ das Land bisher über den Süden Russlands, davon rund 150.000 nach Kasachstan, 150.000 nach Serbien, 110.000 nach Armenien, zwischen 65.000 – 85.000 nach Montenegro und bis zu 100.000 in die Türkei. Auch Israel gehört zu den Zielländern; nach Angaben der israelischen Behörde für Bevölkerung und Migration sind zwischen Februar 2022 und Februar 2023 rund 50.900 jüdische, russische Staatsbürger*innen nach Israel eingereist, weitere 13.000 Familien (ca. 30.000 Personen) warten auf einen Status und etwa 75.000 Russ*innen erhielten bereits die israelische Staatsbürgerschaft.

In vielen dieser Staaten ist der Aufenthalt für russische Flüchtende zeitlich begrenzt und prekär: So gewähren beispielsweise die Türkei und Kasachstan russischen Staatsbürger*innen nur 90 Tage Visumsfreiheit, die nicht beliebig verlängerbar ist, und in Israel droht Schutzsuchenden die Rekrutierung ins israelische Militär (da diese dort nicht an Staatsbürgerschaft, sondern an den Aufenthaltsstatus gebunden ist). In der Europäischen Union kamen schätzungsweise zwischen 55.000 – 100.000 Personen an.

Unter Einbeziehung der Ausnahmeregelungen und der Möglichkeit der Zurückstellung, gehen wir für den Zeitraum Februar 2022 bis Juli 2023 davon aus, dass insgesamt mindestens 250.000 Personen Russland verlassen haben, um sich einer möglichen Rekrutierung für den Krieg zu entziehen, also etwa 30% aller Menschen, die Russland verlassen haben.

Zudem veröffentlichte Eurostat Zahlen zu Asylgesuchen in den 27 Ländern der Europäischen Union. Danach haben im Zeitraum zwischen Februar 2022 und April diesen Jahres 21.790 russische Staatsangehörige in der EU einen Asylantrag gestellt; das sind lediglich 2,65% aller Geflohenen. Unter ihnen befinden sich 9.580 Anträge männlicher Staatsbürger*innen im (militärdienstpflichtigen) Alter zwischen 18 und 64 Jahren. Das entspricht in etwa 44% aller Asylantragstellenden in diesem Zeitraum.

Asyl in Deutschland

Politiker*innen der verschiedensten Fraktionen haben zu Kriegsbeginn erklärt, russischen Verweiger*innen und Deserteur*innen Schutz zu bieten, so u.a. der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz im September 2022. Doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), welches für die Beurteilung der Asylanträge zuständig ist, lehnt Asylanträge russischer Kriegsdienstverweiger*innen reihenweise ab. Ende Januar 2023 wurde beispielsweise der Asylantrag eines russischen Verweigerers abgelehnt, der sich einer möglichen Rekrutierung entzogen hatte. Das BAMF erklärte diese Entscheidung damit, dass „nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen (ist), dass der Antragsteller gegen seinen Willen zwangsweise zu den Streitkräften eingezogen würde.“ Diese Aussage spiegelt angesichts der oben genannte Rekrutierungsversuche und den uns vorliegenden Berichten nicht die Realität wider.

Die Rechtsprechung erkennt Kriegsdienstverweigerung und Desertion nur in zwei Fällen als schutzwürdig an: Wenn a) die Verfolgung Betroffener als ein politischer Akt angesehen wird oder es b) zu einer „übermäßigen Bestrafung“ kommt. Für Militärdienstentziehende gilt dies jedoch nach wie vor nicht, denn es mangelt an einem Nachweis der Wahrscheinlichkeit, für einen völkerrechtswidrigen Krieg rekrutiert zu werden. Ein Flüchtlingsschutz in Deutschland ist nur für diejenigen denkbar, die eine Einberufung oder eine Desertion nachweisen können.

Für Militärdienstentziehende ist eine positive Entscheidung dennoch möglich, wenn Betroffene nachweisen können, dass sie in Russland politisch aktiv waren und ihnen daher eine politische Verfolgung droht. Darüber hinaus können in spezifischen Fällen auch Aufenthaltstitel unbürokratisch gewährt werden, z.B. zwecks Familiennachzugs oder zu Studien-, Ausbildungs- sowie Beschäftigungszwecken. Diese Aufenthaltstitel müssen in der Regel vor der Einreise beantragt werden. Nach der Aussetzung des Visaerleichterungsabkommens der Europäischen Union mit der Russischen Föderation haben Niedersachsen und Thüringen diese Möglichkeit für russische Staatsbürger*innen im Frühjahr 2022 eröffnet, andere Bundesländer bisher nicht.

Humanitäre Visa spielen derzeit eine marginale Rolle. Aus einer Kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag geht hervor, dass bisher 679 humanitäre Visa an Russ*innen (Stand 13. Januar 2023) vergeben worden sind.

Insgesamt muss jedoch beachtet werden, dass zahlreiche Asylgesuche aufgrund der Dublin-III-Verordnung abgewiesen werden. Diese besagt, dass Schutzsuchende in jenem Mitgliedsstaat der EU einen Asylantrag stellen müssen, in dem sie in die EU eingereist sind; andernfalls werden sie dorthin zurückverwiesen. Das ist in seltenen Fällen die Bundesrepublik Deutschland.

Marah Frech: Länderportrait Russland - Militärdienst und Kriegsdienstverweigerung. 8. Oktober 2023

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