Länderportrait Belarus

Militärdienst und Militarisierung der Gesellschaft

(08.10.2023) In Belarus besteht Militärdienstpflicht für alle Personen, die laut Pass als männlich gelten. Da wir drauf aufmerksam machen wollen, dass dazu auch Personen zählen, die nicht männlich sind oder sich nicht als solche identifizieren, verwenden wir eine geschlechtsneutrale Schreibweise.

In Belarus gibt es eine 18-monatige Militärdienstpflicht für alle männlichen Staatsbürger*innen zwischen dem 18. und 27. Lebensjahr. Für Hochschulabsolvent*innen reduziert sich die Militärdienstpflicht auf 12 Monate, für Absolvent*innen einer Offiziersausbildung an militärischen Fakultäten auf 6 Monate; anschließend können männliche Staatsbürger*innen jährlich zu einer Reservistenübung einberufen werden. Einberufungen erfolgen zweimal im Jahr (Frühjahr und Herbst). Seit 2019 sind die Wehrersatzämter befugt, männliche Staatsbürger*innen unter 27 Jahren, die keinen Militärdienst abgeleistet haben, als "Wehrdienstverweigerer ohne rechtlichen Grund" zu bezeichnen. Diese Personen können nicht für Positionen in den Sicherheitskräften eingesetzt werden.

Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt es seit 1994. Für Militärdienstpflichtige, die den Militärdienst bereits abgeleistet haben, Reservist*innen und Soldat*innen gilt diese jedoch nicht. Seit 2016 können Militärdienstpflichtige einen Antrag auf zivilen Ersatzdienst stellen. Dieser ist doppelt so lang wie der Militärdienst (36 Monate im Allgemeinen, 24 Monate für Hochschulabsolvent*innen) und Alternativdienstleistende erhalten eine geringere Vergütung als Militärdienstleistende. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gilt aus religiösen, pazifistischen Gründen, nicht aber für Personen, die ihre Kriegsdienstverweigerung mit einer nicht-religiösen pazifistischen Überzeugung begründen. Im Mai dieses Jahres wurde allerdings bekannt, dass der katholische Priester Dzmitry Malets aus Navagrudak weniger als einen Monat vor Ablauf seiner Militärdienstpflicht zum Truppentransport einberufen wurde. Die Einberufung eines Priesters stellte ein Novum dar.

Laut der Menschenrechtsorganisation Nash Dom haben sich im Februar 2022 nur 6.000 der über 43.000 einberufenen Militärdienstpflichtigen zurückgemeldet, sodass die folgende Herbsteinberufung vorgezogen wurde. Ebenso erfasste und zählte das belarussische Regime die gesamte rekrutierbare Bevölkerung, sodass nicht nur Militärdienstpflichtige mit „persönlichen“ Einberufungsbescheiden in den Einberufungs- und Rekrutierungsbüros erscheinen mussten, sondern die gesamte männliche Bevölkerung im Alter von 18 bis 65 Jahren.

Der Militärdienst ist eine der häufigsten Repressionspraktiken des belarussischen Regimes gegen junge Aktivist*innen. Nash Dom bezeichnet die belarussische Armee als einen Ort der Gefangenschaft, in dem junge Menschen für ein bis anderthalb Jahre inhaftiert und aller Kommunikationsmittel beraubt würden. Sie seien Propaganda, Folter und Verboten ausgesetzt und erhielten nur selten Familienbesuche. Werde bei einem Soldaten ein Mobiltelefon gefunden, so würde er mit 15 Tagen Einzelhaft bestraft. Diese gefängnisähnliche Atmosphäre, die Demütigungen und Misshandlungen führten immer wieder zu Suizid. Zudem sind außergerichtliche Hinrichtungen der belarussischen Armee bekannt.

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die starke Militarisierung der belarussischen Gesellschaft, insbesondere durch militärische Trainingsprogramme, Ferienlager und mehr als 50 militärisch-patriotische Clubs für Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 16 Jahren. Darüber hinaus gibt es 755 "Interessenverbände" mit militärisch-patriotischem Charakter, die mit militärischen Einheiten und verschiedenen Sicherheitsstrukturen verbunden sind. Allein im Sommer 2022 wurden über 18.000 Kinder ab einem Alter von 6 Jahren in solchen Ferienlagern militärisch „trainiert“ und im Umgang mit Schusswaffen unterrichtet. Im Jahr 2023 stieg diese Zahl auf 20.000 an. Diese Lager stehen unter der Schirmherrschaft des Ministeriums für Verteidigung, des Ministeriums für innere Angelegenheiten und des Ministeriums für Notsituationen.

Obwohl im September 2022 erklärt wurde, dass es keine Mobilisierung in Belarus geben würde, kam im Oktober die Mitteilung, dass Belarus an einer „Spezialoperation“ teilnehme und gemeinsame Aktivitäten mit dem russischen Militär beginne. Bisher beteiligt sich das belarussische Militär nicht (offiziell) an den Kämpfen in der Ukraine, doch belarussische Militärdienstpflichtige, Soldat*innen und Reservist*innen spüren die Auswirkungen des Krieges insbesondere bei zunehmenden Repressionen und Verschärfungen des Militärgesetzes. So wurden beispielsweise alle männlichen Staatsbürger*innen im Alter zwischen 18 und 58 Jahren aufgefordert, sich bei den zuständigen Militärbehörden zu melden.

Ausnahmeregelungen

Im Oktober 2022 verabschiedete das belarussische Parlament ein Gesetz, das unter anderem die Gründe für die Gewährung des Rechts auf Aufschub der Militärpflicht aktualisierte und die Anzahl der Personen verringerte, die diesen erhalten.

Im Februar 2023 trat ein gemeinsamer Beschluss des Verteidigungsministeriums und des Ministeriums für öffentliche Gesundheit in Kraft, der die Anforderungen zur Tauglichkeit militärdienstpflichtiger Bürger reduzierte. Seitdem können auch Personen mit Kurzsichtigkeit, Adipositas zweiten Grades und bestimmten anderen Erkrankungen als „tauglich“ gemustert werden.

Der Militärdienst konnte bisher durch ein Studium aufgeschoben werden. Allerdings wurde im Mai 2023 ein neues Gesetz verabschiedet, welches die Regelungen zur Zurückstellung für Studierende im Ausland einschränkt. Betroffene sind nun gezwungen, entweder zur Ableistung des Militärdienstes nach Belarus zurückzukehren oder in einem anderen Land als Kriegsdienstverweigerer einen Asylantrag zu stellen. Für diejenigen, die im Rahmen staatlicher Programme im Ausland studieren, die mit Einrichtungen der Staatsverwaltung zusammenhängen, gilt das neue Gesetz nicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind damit Studierende an russischen Universitäten gemeint.

Weitere Informationen zur rechtlichen Situation der Kriegsdienstverweigerung in Belarus finden sich im Jahresbericht 2022/23 des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung (EBCO).

Kriegsdienstverweigerung durch Militärdienstentziehung und Desertion

Im Februar 2023 verabschiedete das von Lukaschenko kontrollierte Parlament weitreichende Änderungen des Strafgesetzbuchs und führte die Möglichkeit der Todesstrafe bei „Hochverrat“ durch Militärangehörige ein. Da Desertion aus dem belarussischen Militär rechtlich als „Hochverrat“ gilt, können Deserteur*innen mittlerweile zur Todesstrafe verurteilt werden. Zudem haben die Strafverfolgungsbehörden das Recht, Personen, die der Verschwörung, der Spionage, der Agententätigkeit und terroristischer Handlungen verdächtigt werden, zu verhaften. Somit richtet sich dieser Gesetzesentwurf auch gegen Menschenrechtsverteidiger*innen im Exil und soll eine abschreckende Wirkung erzielen. Außerdem wurde die Unterstützung von Deserteur*innen unter Strafe gestellt und kann mit bis zu 5 Jahren Haft bestraft werden (Art. 375 Abs. 2). So wurde beispielsweise im August 2022 ein Strafverfahren gegen zwei Frauen in Witebsk eingeleitet, die versuchten, ihren Sohn bzw. Neffen vor dem Militärdienst zu schützen. Sie wurden verhaftet und ihnen drohen bis zu sieben Jahren Haft; ein Urteil in diesem Fall ist uns noch nicht bekannt.

Die Strafen für Militärdienstentziehung variieren, so gibt es Geldstrafen und Freiheitsstrafen bis zu 6 Monaten; bei zusätzlicher Urkundenfälschung können diese auf 5 Jahre Haftstrafe ausgeweitet werden. Aus Medienberichten geht hervor, dass es zwischen Juli 2022 und Juli 2023 19 Gerichtsverfahren gegen Militärdienstverweiger*innen und mindestens 88 Kriegsdienstverweiger*innen gegeben hat. Zwischen August und Dezember 2022 sind sechs Verurteilungen wegen Militärdienstentziehung bekannt. Die Strafen variieren zwischen Geldstrafen in der Höhe von 2.240 BYN (ca. 907 EUR) und Freiheitsstrafen von bis zu 6 Monaten, wie im Falle eines Militärdienstentziehers, der nach Polen ging und bei seiner Rückkehr nach Belarus festgenommen wurde. Er wurde zu einer zweimonatigen Haftstrafe verurteilt.

In Belarus entziehen sich laut den Angaben der Militärkommissariate jedes Jahr mehr als 5.000 Personen dem Militärdienst. Wie Nash Dom berichtete, wurden im Jahr 2022 in mehr als 400 Fällen Strafverfahren eingeleitet.

Flucht ins Ausland

Viele Belaruss*innen, die in der Europäischen Union Schutz suchen, fliehen in das Nachbarland Litauen. Doch die diplomatischen Beziehungen zwischen der litauischen Regierung und dem belarussischen Regime sind angespannt. In Folge des Anstiegs von Grenzübertritten durch Flüchtende („Drittstaatsangehörige“) von Belarus nach Litauen und der Beteiligung Belarus‘ an dem russischen Krieg in der Ukraine wurde die Zusammenarbeit an der Grenze eingestellt und die diplomatischen Beziehungen auf beiden Seiten auf ein Minimum reduziert. Seitdem werden auch Asylanträge belarussischer Kriegsdienstverweiger*innen in Litauen immer häufiger abgelehnt und belarussische Aktivist*innen sowie Menschenrechtsverteidiger*innen sehen sich mit zunehmenden Repressionen konfrontiert, wie der Fall der Aktivistin und Oppositionellen Olga Karatch zeigt.

Asyl in Deutschland

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), welches für die Beurteilung der Asylanträge in Deutschland zuständig ist, erkennt Kriegsdienstverweigerung und Desertion nur in zwei Fällen als schutzwürdig an: Wenn a) die Verfolgung Betroffener als ein politischer Akt angesehen wird oder es b) zu einer „übermäßigen Bestrafung“ kommt.

Es wird darüber nachzudenken sein, ob die Einordnung der Desertion in das politische Strafrecht in Belarus („Hochverrat“) als relevant im Sinne des Flüchtlingsschutzes bewertet werden könnte. In diesem Fall hätten Soldat*innen, die ihre Desertion nachweisen können, nach der Genfer Flüchtlingskonvention möglicherweise einen Schutzgrund in Deutschland.

Militärdienstentziehung ist dagegen nicht flüchtlingsrelevant, bewertet wird lediglich die Verfolgungshandlung, d.h. die „übermäßige“ Bestrafung. Überprüft werden könnte, ob die Kumulation von Militärdienstentziehung und Flucht ins Ausland zu „übermäßiger Bestrafung“ führt und Betroffenen daher Schutz gewährt werden könnte. Bei Personen, die in Belarus nachweislich politisch aktiv waren, kann zudem überprüft werden, ob sie als politisch Verfolgte Schutz erhalten.

Aufenthaltstitel werden nur für spezifische Fälle ausgestellt, könnten aber unbürokratisch gewährt werden, z.B. zwecks Familiennachzugs oder zu Studien-, Ausbildungs- sowie Beschäftigungszwecken. Diese Aufenthaltstitel müssen vor der Einreise beantragt werden. Diese Möglichkeit haben Niedersachsen und Thüringen im März und April 2022 für belarussische Staatsbürger*innen eröffnet, andere Bundesländer bisher nicht. Derzeit werden keine humanitären Visa vergeben.

Derzeit sind kaum Fälle von Militärdienstentziehenden und Deserteur*innen aus Belarus bekannt, die einen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland gestellt haben. Einen „Automatismus“ der Bewertung gibt es daher nicht; stattdessen werden Fälle einzeln geprüft. Sollten sich die Fakten ändern, muss diese Situation neu bewertet werden.

Es muss darüber hinaus beachtet werden, dass zahlreiche Asylgesuche aufgrund der Dublin-III-Verordnung abgewiesen werden. Diese besagt, dass Schutzsuchende in jenem Mitgliedsstaat der EU einen Asylantrag stellen müssen, in dem sie in die EU eingereist sind; andernfalls werden sie dorthin zurückverwiesen. Das ist in seltenen Fällen die Bundesrepublik Deutschland.

Marah Frech: Länderportrait Belarus - Militärdienst und Militarisierung der Gesellschaft, 8. Oktober 2023

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