Bundesamt für Migration lehnt Asyl für russischen Verweigerer ab

Russland, Belarus, Ukraine: Wie steht es um den Schutz der Verweigerer?

von Rudi Friedrich, Connection e.V.

(17.02.2023) Ende Januar 2023 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Asylantrag eines russischen Verweigerers ab, der sich einer möglichen Rekrutierung entzogen hatte, und schrieb in dem Bescheid: »Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Antragsteller gegen seinen Willen zwangsweise zu den Streitkräften eingezogen würde.«

Wie kann das sein? Noch im September 2022 gab es in Deutschland eine seltene parteiübergreifende Einigkeit, dass russische Militärdienstentzieher, Verweigerer und Deserteure geschützt werden sollen. Das BAMF aber schafft Fakten, lehnt einen Verweigerer ab ­ und bezieht sich dabei auf längst überholte Argumente. Es stellt sich die Frage, wie viele derartige Bescheide vom Bundesamt für Migration ausgestellt wurden, die in so eklatanter Weise die Rechte der Antragsteller verletzen.

Veraltete Argumentation

Ausführlich lautet die Begründung des Bundesamtes: »Allerdings ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Antragsteller, ein (über 40-jähriger) Staatsangehöriger der Russischen Föderation, der nach seinen Angaben keinen Wehrdienst abgeleistet hat und damit nicht über militärische Vorkenntnisse und auch sonst nicht über (militärisch relevante) Spezialkenntnisse verfügt, überhaupt gegen seinen Willen zwangsweise zu den Streitkräften eingezogen würde. Gemäß § 22 des föderalen Gesetzes ‚Über die Wehrpflicht und den Militärdienst‘ werden alle männlichen russischen Staatsangehörigen im Alter zwischen 18 und 27 Jahren zur Stellung für den Pflichtdienst in der russischen Armee einberufen. Aus den vorliegenden Erkenntnismittel ergibt sich nicht, dass die Russische Föderation aus Anlass des Krieges mit der Ukraine über die genannte Altersgruppe hinaus im Rahmen einer Teil- oder Generalmobilmachung weitere Jahrgänge zu den Streitkräften einziehen würde oder eine solche Mobilmachung in absehbarer Zeit bevorstehen würde. Eine solche Mobilmachung wird auch sonst für unwahrscheinlich gehalten, insbesondere, da sie nicht mit dem russischen Narrativ einer nach Plan verlaufenden, begrenzten ‚Spezialoperation‘ zu vereinbaren und innenpolitisch kaum zu vermitteln wäre.« Dieser Bescheid erging im Januar 2023, also vier Monate nach der Verkündung der Teilmobilmachung in Russland.

Auch die weitere Faktenlage wird von Organisationen, die sich seit vielen Jahren mit diesen Themen beschäftigen, ganz anders eingeschätzt. Der Internationale Versöhnungsbund führte Mitte Oktober 2022 in einer Expertise für die Vereinten Nationen aus: »In der Praxis werden Vorladungen an Wehrpflichtige ohne Unterschrift in den Briefkasten gesteckt. Das Datum des Erscheinens kann außerhalb der Einberufungsfristen angegeben werden. Und anstelle des spezifischen Zwecks des Aufrufs enthält die Vorladung die allgemeine Formulierung ,Klärung von Daten‘. Wenn ein Wehrpflichtiger in einer solchen Situation ein Militärkommissariat aufsucht, kann er sofort am Tag des Besuchs zum Militärdienst einberufen werden.«

Formal, dem Gesetz nach, sind für Erfassung, für Musterung und die Einberufung amtliche, persönlich zugestellte, Schreiben notwendig. Der Wehrpflichtige muss den Empfang mit seiner Unterschrift bestätigen. Dieser formale Weg wird aber in Russland nicht mehr eingehalten. Anders als vom BAMF behauptet, ist eine Rekrutierung auch über das 27. Lebensjahr hinaus möglich. Am 25. Mai 2022 verabschiedete die Duma ein Gesetz, womit auch Männer bis zu 65 Jahren zur Armee eingezogen werden können.

Razzien und Straßenkontrollen zur Rekrutierung

Während der Teilmobilmachung im September und Oktober 2022 gab es Razzien und Straßenkontrollen zur Rekrutierung, wie die Expertise weiter ausführt: »Seit Beginn der Mobilisierung ist es in den Großstädten eine weit verbreitete Praxis, dass Polizeibeamte Männer auf der Straße anhalten, ihre Papiere überprüfen und versuchen, ihnen eine Vorladung auszuhändigen. In letzter Zeit wurde eine weitere Praxis in Form von Razzien eingeführt. Am 9. Oktober kam die Polizei in das „Aufwärmzentrum" für Obdachlose in Moskau und nahm mehrere Dutzend Personen fest. Auch in Arbeiterwohnheimen gab es Razzien. In St. Petersburg blockierten Polizeibeamte die Ausgänge mehrerer Wohngebäude und verteilten Vorladungen.« Zudem lagen bei den Rekrutierungen den Behörden keine Informationen über Ausmusterungen oder Zurückstellungen vor. Dadurch ist zu erklären, warum selbst von offiziellen russischen Stellen die Zahl von 9.000 zu Unrecht rekrutierten Personen im Zuge der Teilmobilmachung zugestanden wurden. Die tatsächliche Zahl ist unbekannt.

Diese Praxis führt dazu, dass viele Männer, die zwischen 18 und 65 Jahre alt sind und damit rekrutiert werden können, versuchen, jeden Kontakt mit den Militärbehörden zu vermeiden. Sie sehen die Gefahr, dass sie jederzeit rekrutiert und in der Ukraine eingesetzt werden könnten. Deshalb entscheiden sie sich, Russland zu verlassen, bevor sie Kontakt zum Militär hatten. So werden sie zu sogenannten Militärdienstentziehern.

EU-Länder müssen auch Lösungen für Militärdienstentzieher finden

Somit müssen die EU-Länder mit Blick auf Asyl oder einen anderen Aufenthaltsstatus nicht nur neue Kriterien für Deserteure entwickeln, wie es zum Beispiel die deutsche Bundesregierung gemacht hat. Es geht auch darum, Lösungen für die große Zahl der Militärdienstentzieher zu finden. Denn wenn sie nach Russland zurückkehren müssen, sind sie einer Rekrutierung für einen völkerrechtswidrigen Krieg unterworfen.

Im Rahmen des von PRO ASYL geförderten Projektes #ObjectWarCampaign hat Connection e.V. zahlreiche Fakten gesammelt und daraus gemeinsam mit PRO ASYL Schlussfolgerungen gezogen und Forderungen entwickelt.

Unterschiede: Desertion, Militärdienstentziehung und Kriegsdienstverweigerung

Zum Verständnis und zur Einschätzung über rechtliche Hintergründe und asylrechtliche Möglichkeiten ist es wichtig, die Bezeichnungen zu definieren:

Die meisten flüchtigen Militärdienstpflichtigen sind Militärdienstentzieher. Sie haben sich vor einer möglichen Rekrutierung dem Zugriff des Militärs entzogen. Zum Teil werden sie auch als Wehrdienstflüchtlinge bezeichnet.

Zahlenmäßig deutlich weniger sind Deserteure. Sie haben zumindest eine Einberufung erhalten und werden daher als Soldaten angesehen. Deserteure flüchten nach Erhalt einer Einberufung oder während des Militärdienstes.

Die Kriegsdienstverweigerung ist eine persönliche Entscheidung, nicht zum Militär zu gehen. Sie wird oft gegenüber den Behörden oder dem Militär erklärt. Kriegsdienstverweigerung ist 2011 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Menschenrecht anerkannt worden.

Hunderttausende fliehen auf allen Seiten

Connection e.V. hatte im September 2022 eine ausführliche Analyse vorgelegt, wie viele militärdienstpflichtige Männer aus Russland, Belarus und der Ukraine geflohen sind. Solche Zahlen können nur Schätzungen sein. Es gibt keine eindeutigen Statistiken über die Zahl der Menschen, die das jeweilige Land verlassen haben. Es ist nicht wirklich bekannt, ob die Flucht vor einer Rekrutierung der einzige oder der ausschlaggebende Grund ist. Unbekannt ist auch, wie viele der Flüchtlinge im Herkunftsland Ausnahmeregelungen in Anspruch nehmen können.

Dennoch kam Connection e.V. nach vorsichtiger Schätzung im September 2022 zu dem Ergebnis, dass mehr als 150.000 militärdienstpflichtige Männer Russland, über 145.000 militärdienstpflichtige Männer die Ukraine und mehr als 22.000 militärdienstpflichtige Männer Belarus verlassen haben.

Unter den gleichen Voraussetzungen gibt es für Februar 2023 folgendes Ergebnis: Für Russland liegen keine neuen Zahlen vor, so dass es bei der Schätzung von mehr als 150.000 militärdienstpflichtigen Männern bleibt, die das Land verlassen haben. Für die Ukraine steigt die Zahl der militärdienstpflichtigen Männer, die nach Westeuropa gekommen sind, auf 175.000. Für Belarus liegen keine neuen Zahlen vor, es bleibt bei geschätzt 22.000 militärdienstpflichtigen Männer, die das Land verlassen haben.

Zahl der Asylanträge von russischen Verweigerern steigt auf niedrigem Niveau an

Deutlich gestiegen ist in Deutschland die Zahl der Asylerstanträge von russischen Verweigerern. Russland ist im Dezember 2022 in die Top 10 der Asylsuchenden für das gesamte Jahr aufgestiegen, das heißt, die Zahlen haben sich im Lauf des Jahres 2022 signifikant erhöht. Laut BAMF haben im November und Dezember 2022 jeweils mehr als 500 Menschen aus Russland einen ersten Asylantrag gestellt, zuvor waren es 150 bis 250 im Monat. Es ist anzunehmen, dass hier ein Zusammenhang mit der Teilmobilmachung in Russland im September 2022 besteht. Insgesamt haben von März bis Dezember 2022 schätzungsweise 600 militärdienstpflichtige Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren einen Erstasylantrag in Deutschland gestellt.

Für Westeuropa liefert Eurostat Daten über die Asylerstanträge. Demnach hatten von Januar bis Juni 2022 schätzungsweise 1.200 militärdienstpflichtige Männer einen Asylantrag in einem der 27 westeuropäischen Länder gestellt. Diese Zahl dürfte sich ein Jahr nach Beginn des Krieges im Februar 2023 auf 2.800 erhöht haben. Die Asylerstanträge von belarussischen Staatsbürgern haben sich laut Eurostat in den letzten Monaten kaum verändert und liegen europaweit bei 300 bis 500 pro Monat.

Dublin III-Verordnung

In der Dublin-III-Verordnung ist geregelt, welches westeuropäische Land des Schengen-Raumes für das Asylverfahren zuständig ist. Häufig reisen russische oder belarussische Militärdienstentzieher oder Deserteure mit einem Visum eines anderen Landes, zum Beispiel aus Finnland, Polen, Tschechien, Kroatien, Italien oder Spanien, ein. Aufgrund von Dublin-III ist dann in der Regel dieses Land für die Bearbeitung des Asylantrages zuständig, selbst in den Fällen, in denen sie hier in Deutschland durch entferntere Verwandte oder Freunde umfangreiche Unterstützung erhalten würden.

Zu den Hauptfluchtländern gehören Kasachstan, Georgien und die Türkei

Doch nur die wenigsten Militärdienstentzieher und Deserteure aus Russland und Belarus sind in Länder Westeuropas geflohen. Hauptfluchtländer sind hingegen Kasachstan, Georgien, Armenien, Türkei, auch Serbien oder Israel. Grund dafür ist vor allem eine sehr restriktive Handhabung der Visavergabe durch die Länder des Schengen-Raums. Die Situation in den Hauptfluchtländern ist zum Teil prekär. Die Türkei – und seit Ende Januar auch Kasachstan – gewährt russischen Staatsbürger*innen nur einen begrenzten Aufenthaltsstatus von drei Monaten, der nicht beliebig verlängerbar ist.

Anders stellt sich dies für ukrainische Verweigerer dar. Wie alle anderen ukrainischen Staatsbürger haben sie das Recht, ohne Visum in die Europäische Union einzureisen und erhalten hier zumindest einen befristeten humanitären Aufenthaltsstatus nach Paragraf 24 Aufenthaltsgesetz. Allerdings hat die Ukraine mit Beginn des Krieges die Grenze für militärdienstpflichtige Männer geschlossen. Ende 2022 wurde berichtet, dass im Jahr 2022 fast 12.000 mutmaßliche Verweigerer an den Grenzen aufgegriffen wurden.

Rechtlicher Rahmen: Kriegsdienstverweigerung und Desertion in Russland, Belarus und der Ukraine

In allen drei Ländern gibt es eine Wehrpflicht, der alle Männer zwischen 18 und 27 Jahren unterliegen. Russland hat das Alter für eine mögliche Einberufung auf 65 Jahre erhöht, die Ukraine auf 60 Jahre. Jede Person müsste das Recht haben, jederzeit einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen zu können. Das wird in keinem der drei Länder gewährleistet.

In Russland und Belarus ist ein Antrag nur bis zur Einberufung möglich. Es gibt kein Recht für Reservisten und Soldaten, einen Antrag zu stellen. Wenn Anträge überprüft werden, müsste dies durch ein unabhängiges Gremium erfolgen. Tatsächlich aber ist in Russland und Belarus das Militär an den Entscheidungen beteiligt. In Belarus wird das Recht zudem beschränkt auf religiöse Kriegsdienstverweigerer.

Kriegsdienstverweigerer müssten die Möglichkeit haben, einen Dienst unabhängig vom Militärdienst abzuleisten. Belarus sieht hier nur einen unbewaffneten Dienst im Militär vor. Auch in Russland ist durch eine Gesetzesänderung der Einsatz von Kriegsdienstverweigerern innerhalb des Militärs möglich geworden.

Wer nicht zum Militär geht, dem droht eine Bestrafung von mehreren Jahre Haft. Schärfer verfolgt wird eine Desertion, insbesondere während eines Krieges.

In den Separatistengebieten wird zwangsrekrutiert. Es gibt kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Verweigerer werden an die Front geschickt oder inhaftiert.

Die Ukraine hat das bestehende Gesetz zur Kriegsdienstverweigerung mit dem Kriegsrecht am 24. Februar 2022 ausgesetzt. Zuvor konnten Angehörige von zehn kleinen religiösen Gemeinschaften einen Antrag stellen. Durch die Aussetzung ist ihnen dieses Recht genommen. Einige Kriegsdienstverweigerer wurden zu mehreren Jahren Haft verurteilt.

Asyl: Nur wenige Türen öffnen sich

Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerung und Desertion im Allgemeinen nicht als Asylgrund gewertet wird. Die obergerichtliche Rechtsprechung verweist darauf, dass es sich bei der Wehrpflicht um eine allgemeine staatliche Pflicht handelt, die alle Bürger (oder jedenfalls alle Bürger im wehrfähigen Alter und gegebenenfalls männlichen Geschlechts) gleichermaßen trifft; Strafverfolgung und Bestrafung für eine Verweigerung wird daher als legitimes staatliches Handeln eingestuft. Die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerung wird nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte von Gerichten nur in Einzelfällen als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gewertet, womit lediglich ein Abschiebeschutz in Frage kommt.

Allein im Falle russischer Deserteure sieht das Bundesinnministerium dies anders, weil es davon ausgeht, dass diesen Verfolgungshandlungen aus politischen Gründen drohen. Wörtlich heißt es in einer Mitteilung des Bundesinnenministeriums vom Mai 2022 dazu, es könne »davon ausgegangen werden, dass drohende Verfolgungshandlungen in der Regel in Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund (§ 3b AsylG) erfolgen. Da bereits die Bezeichnung „Krieg“, bezogen auf den Angriff auf die Ukraine, in der Russischen Föderation als oppositionelle politische Darstellung geahndet werden kann, kann eine Desertion – als aktives Bekunden gegen die Kriegsführung – als Ausdruck einer oppositionellen Überzeugung gewertet werden.«

In der Mitteilung des Bundesinnenministeriums wird jedoch ausdrücklich weiter ausgeführt, dass russische »Wehrdienstflüchtlinge von den Ausführungen nicht umfasst« sind. PRO ASYL und Connection e.V. kritisieren das seit Monaten.

Verweigerung der Teilnahme an einem völkerrechtswidrigen Krieges

In den Asylverfahren von russischen Deserteuren und Verweigerern findet eine Regelung der europäischen Gesetzgebung Anwendung, die sogenannte Qualifikationsrichtlinie. Sie regelt in Artikel 9, wer als Flüchtling in der Europäischen Union anerkannt werden kann. Hier findet sich ein Passus, der besagt, dass dies bei drohender Strafverfolgung wegen Verweigerung der Teilnahme an völkerrechtswidrigen Kriegen der Fall ist. Russische Verweigerer, Militärdienstentzieher und Deserteure sehen sich einer solchen Strafverfolgung ausgesetzt. Das könnte auch der Fall sein, wenn, wie von belarussischen Organisationen schon seit Monaten befürchtet, auch Belarus in den Krieg eintritt und eigene Truppen in die Ukraine entsendet. In der Rechtsprechung wird aber die Frage aufgeworfen, unter welchen Umständen diese Regelung greift.

Hierüber hat der Europäische Gerichtshof, das höchste Gericht der Europäischen Union, bereits zwei Mal verhandelt. Damit wurden einige Voraussetzungen definiert, die es leider angesichts der aktuellen Situation wenig wahrscheinlich machen, dass darüber für die Betroffenen tatsächlich ein Schutz erreicht werden kann. Denn die Betroffenen müssten zuvor in ihrem Land einen förmlichen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt haben, der abgelehnt wurde oder sie zumindest nicht davor bewahrt, als Teil der kämpfenden Truppe ins Kriegsgebiet entsendet zu werden. Sie müssten nachweisen, dass sie wirklich rekrutiert wurden und ein Einsatz im Krieg ernsthaft droht. Kaum jemand wird diese Kriterien erfüllen können.

Flüchtlingsschutz bei politischer Verfolgung oder übermäßiger Bestrafung

In der Asylrechtsprechung wird die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerung und Desertion nur dann als relevant angesehen, wenn die Handlung vom Verfolgerstaat als ein politischer Akt angesehen wird oder eine übermäßige Bestrafung erfolgt. Ersteres hat das Bundesinnenministerium wie oben dargelegt in der Stellungnahme vom Mai 2022 in Bezug auf Deserteure aus Russland als gegeben qualifiziert. Wenn dies wirklich so umgesetzt wird, dann müssten zumindest diejenigen, die eine Einberufung oder eine Desertion nachweisen können, Flüchtlingsschutz erhalten.

Die Militärdienstentziehung hingegen wird nicht in dieser Weise interpretiert. Die Furcht vor einer möglichen Rekrutierung für einen völkerrechtswidrigen Krieg, wenn der Betroffene zwangsweise zurückkehren muss, wird offensichtlich nicht als schutzwürdig angesehen. Auch eine mögliche Bestrafung – wenn auch in geringerem Maße – führt bislang zu keiner anderen Einschätzung der deutschen Behörden.

Zur Praxis des Bundesamtes für Migration

Bislang liegen Connection e.V. nur zwei Bescheide vor, die Asylanträge von Militärdienstentziehern aus Russland behandeln. In einem Fall wurde der Antragsteller anerkannt, aber nicht wegen der Militärdienstentziehung, sondern wegen seiner öffentlichen politischen Aktivitäten. Der andere, ein über 40-jähriger Militärdienstentzieher, wurde abgelehnt, aus dem Bescheid wurde zu Beginn dieses Textes zitiert. Die Kernthese darin lautet: »Es ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Antragsteller gegen seinen Willen zwangsweise zu den Streitkräften eingezogen würde.« Oben ist ausgeführt, warum PRO ASYL und Connection e.V. diese Entscheidung für grob fahrlässig halten.

„Beachtliche Wahrscheinlichkeit“ wird entscheidend

Ein entscheidender Punkt in den Asylverfahren wird die Frage sein, mit welcher „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ dem Betroffenen in Russland eine Rekrutierung droht. Bislang ist davon auszugehen, dass dies von den deutschen Behörden in aller Regel verneint werden wird, selbst angesichts von Berichten, die zeigen, dass die Teilmobilmachung im Oktober 2022 auf willkürlicher Basis erfolgte und es mehrere Tausend Fälle gab, in denen Männer zu Unrecht rekrutiert wurden. Auch die Wehrpflichtigen werden auf willkürlicher Basis rekrutiert. Die Betroffenen werden in jedem Einzelfall nachzuweisen haben, dass gerade sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit einberufen worden wären.

Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung auch für Ukrainer

Noch spricht niemand davon, aber in Zukunft werden diese Fragen auch Männer aus der Ukraine betreffen. In zwei Jahren wird nach derzeitigem Stand der Dinge der humanitäre Status für ukrainische Flüchtlinge auslaufen. Das kann bedeuten, dass dann die ukrainischen Flüchtlinge – und mit ihnen militärdienstpflichtige Männer – in die Ukraine zurückkehren müssen.

Im Falle einer möglichen Strafverfolgung könnten sie sich nur darauf berufen, dass es für sie in der Ukraine keine Möglichkeit gab, die Kriegsdienstverweigerung zu erklären. Bereits 2014 und 2015, als einige Tausend aus der Ukraine nach Deutschland kamen, wurde von deutschen Behörden und Gerichten festgestellt, dass dies kein ausreichender Grund sei, einen Schutz zu beanspruchen, welcher Art auch immer.

Forderungen an die Politik

Die Praxis des BAMF entspricht nicht der dramatischen und lebensbedrohlichen Situation, in der sich die Schutzsuchenden befinden. Mit Blick auf die aktuellen Fluchtbewegungen aus Russland, Belarus und der Ukraine fordern PRO ASYL und Connection e.V. deshalb:

- Russische Staatsbürger*innen sollten auch von Ländern außerhalb Russlands Anträge zur Aufnahme in die Europäische Union stellen können. Hier ist eine unbürokratische Lösung nötig, die sie vor einer Abschiebung aus einem anderen Land zurück nach Russland schützt. Humanitäre Visa sind eine Möglichkeit, die die Bundesregierung und die anderen EU-Staaten verstärkt nutzen sollten. Nur so erhalten die Menschen die Chance, auf legalem Weg nach Deutschland zu kommen und hier um Schutz zu bitten. Das muss ebenso für Geflüchtete anderer Nationalitäten gelten.

- Die Grenzen müssen geöffnet werden! Flüchtlinge müssen die Möglichkeit haben, Länder zu erreichen, die ihnen einen sicheren Aufenthalt gewähren können. Die derzeit gültigen Regelungen für eine Visavergabe hindern viele daran, sichere Länder zu erreichen. Eine Aufnahme Schutzsuchender kann nur gelingen, wenn die illegalen Pushbacks gestoppt werden und die Menschen Zugang zu einem fairen Asylverfahren erhalten.

- Mit Blick auf Asyl oder einen anderen Aufenthaltsstatus müssen die EU-Länder nicht nur Kriterien für Deserteure entwickeln, sondern vor allem Lösungen für die große Zahl der Militärdienstentzieher finden. Sie wären bei einer zwangsweisen Rückkehr nach Russland einer Rekrutierung für einen völkerrechtswidrigen Krieg unterworfen.

- Die EU sollte ein Aufnahmeprogramm beschließen, damit diejenigen russischen Staatsbürger*innen, die sich unter großem Risiko von der Regierung ihres Landes abgewandt haben, Möglichkeiten der Ausbildung und Beschäftigung erhalten.

- Ukrainische Kriegsdienstverweigerer, die aufgrund ihrer Entscheidung mehrjährige Haftstrafen befürchten müssen, wenn sie einmal in die Ukraine zurückkehren, verdienen ebenfalls die Unterstützung der EU und müssen hier die Chance auf Schutz erhalten. Die Ukraine ist aufzufordern, das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung umzusetzen.

Rudi Friedrich, Connection e.V.: Bundesamt für Migration lehnt Asyl für russischen Verweigerer ab. www.Connection-eV.org, 17. Februar 2023. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe April 2023

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