Ukraine: Militärdienstpflicht und Kriegsdienstverweigerung

Aus dem EBCO-Jahresbericht 2022/23

(15.05.2023) Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine, das durch das ukrainische Gesetz vor 2022 bereits nicht ausreichend geschützt war, wurde durch die Kriegspolitik und die Einführung des Kriegsrechts nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 außer Kraft gesetzt (mit wenigen Ausnahmen). Kriegsdienstverweigerer riskieren, zwangsweise eingezogen, inhaftiert und verfolgt zu werden wegen ihrer Weigerung, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Sie leiden unter sozialer Stigmatisierung, einer fehlenden rechtlichen Anerkennung ihrer Entscheidung und der Verweigerung des Zugangs zu alternativen Diensten sowie den Beschränkungen, das Land zu verlassen.


Militärdienstpflicht: Ja // Wiedereinführung im Jahr 2014 (nach Suspendierung im Jahr 2012).

Kriegsdienstverweigerung: 1991 erstmals anerkannt im Gesetz der Ukraine "Über den alternativen (nicht-militärischen) Dienst" Nr. 1975-XII vom 12. Dezember 1991; mit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 ausgesetzt.

Militärdienst: 18 Monate // 12 Monate für Absolventen mit einem MA-Abschluss. Mit Kriegsbeginn ausgesetzt.

Zivildienst: 27 Monate // 18 Monate für Absolventen mit einem MA-Abschluss. Mit Kriegsbeginn ausgesetzt.

Mindestalter bei Einberufung: 18 // Verpflichtender Kriegsdienst zwischen 18 und 26 Jahren.

Freiwillige Registrierung im Militärregister: ab 17 Jahren // Militärschulen auch unter 18 Jahren // Militärkadetten ab 17 Jahren.

Informationen: https://ebco-beoc.org/ukraine/


Internationale Kritik an der Kriegspolitik und früheren Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem Zwang zur Ableistung des Militärdienstes, darunter auch der Aufruf von EBCO zur sofortigen und bedingungslosen Freilassung des Kriegsdienstverweigerers Vitaliy Alekseenko,1 wurde von der Regierung der Ukraine offensichtlich ignoriert. Dies geschah auch in den Jahren zuvor, noch vor der Invasion, als Empfehlungen internationaler Menschenrechtsinstitutionen und -organisationen zum Schutz des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung von der Regierung und den Strafverfolgungsbehörden der Ukraine missachtet wurden. Die einschlägigen Rechtsvorschriften wurden nicht angepasst an internationale Menschenrechtsstandards, und Täter willkürlicher Inhaftierungen von Militärdienstpflichtigen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Infolgedessen wurde es üblich, Militärdienstpflichtige auf den Straßen festzunehmen, zu entführen und willkürlich zu inhaftieren. Man kann durchaus von einer legalisierten Praxis2 sprechen, obwohl einige skandalöse Fälle offiziell untersucht wurden (es gibt keine Informationen über Prozesse gegen Täter).3, 4

Nach Einführung des Kriegsrechts wurde die reguläre und zeitlich begrenzte Einberufung, die im Dezember 2021 durch einen Präsidialerlass für 2022 vorgesehen war, im April 2022 durch einen neuen Erlass aufgehoben. Stattdessen wurde die Dienstzeit der Militärdienstpflichtigen bis zum Ende des Kriegsrechts verlängert, das zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts weiterhin besteht, und es wurden Maßnahmen zur Mobilmachung ergriffen (mit neuen auf unbestimmte Zeit Einberufenen), um die Stärke der Armee auf das Vierfache zu erhöhen, so dass die aktuelle Stärke des Militärs eine Million Soldaten übersteigt.

Die Militärdienstpflicht in der Ukraine während des Kriegsrechts und der Mobilisierung betrifft alle Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren mit einer obligatorischen Erfassung von Männern ab 16 Jahren und weiblichen Fachkräften in Medizin undPharmazie. Die Erfassung beinhaltet eine Musterung. Ohne Gründe für eine Zurückstellung, insbesondere wenn wegen Verlusten an der Front Personal benötigt wird, kann jede Person sofort eingezogen werden, wenn sie für tauglich erklärt wird. In einer Reihe von Fällen erklärten Militärärzte in skandalöser Weise offensichtlich verkrüppelte und schwer kranke Menschen für tauglich. Aus diesen Gründen fürchten viele Menschen, sich einer Erfassung zu unterziehen, selbst wenn sie eine Vorladung erhalten haben und das Nicht-Erscheinen eine erhebliche Geldstrafe nach sich ziehen könnte. Um die Menschen zur Erfassung zu zwingen, werden Vorschriften zur Vorlage von Beweisen in vielen Bereichen des zivilen Lebens eingeführt. Zum Beispiel wird ein Militärausweis in der Regel für die obligatorische Registrierung des Wohnorts, für den Zugang zu Bildung, Beschäftigung, Ehe, Sozialleistungen und anderen staatlichen Dienstleistungen eingefordert.

Alle Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren gelten als Soldaten. Sie können den Wohnort ohne Erlaubnis des lokalen Militärkommissars nicht wechseln und dürfen die Ukraine mit einigen Ausnahmen nicht verlassen, wie vom UN-Menschenrechts-Monitoring festgestellt wurde. Diese Politik ist sowohl bezüglich Rechtmäßigkeit als auch der Angemessenheit im Sinne der Menschenrechte fragwürdig.5, 6

Die Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine wird durch das restriktive Gesetz der Ukraine von 1991 über alternative nicht-militärische Dienste geregelt,7 das normalerweise von den Rekrutierungszentren und lokalen Verwaltungen angewendet wird, die für die Organisation des alternativen Dienstes verantwortlich sind. Über diese restriktiven Regelungen hinaus ist es theoretisch möglich, umfassendere Normen des Art. 35 (4) der Verfassung der Ukraine von 1996, Art. 18 des ICCPR und Art. 9 der EMRK heranzuziehen, die formell Teil der ukrainischen Gesetzgebung sind. In den meisten Fällen wird das jedoch mit Bezug auf restriktive Vorschriften des genannten Gesetzes ignoriert oder abgelehnt, auch von Gerichten. Die ukrainische Regierung ist nicht bereit, die internationalen Menschenrechte in dieser Hinsicht einzuhalten und verhängte Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung für die öffentliche Kritik an den Streitkräften der Ukraine und das Eintreten für die Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine.8

Die Praxis zur Anerkennung einer Kriegsdienstverweigerung in den Rekrutierungsbüros wird durch ein Schreiben des Verteidigungsministeriums der Ukraine vom 21. August 2022 erläutert. Dort heißt es: „Aufgrund des Kriegsrechts wird seit dem 24.02.2022 der befristete Militärdienst in der Ukraine nicht mehr durchgeführt. Daher ist die Durchführung des Alternativen Dienstes nicht anwendbar."9 Doch selbst die nationale ukrainische Menschenrechtsinstitution erkennt die Unrechtmäßigkeit solcher Praktiken an. Laut dem Schreiben des Menschenrechtsbeauftragten der Werchowna Rada der Ukraine, Dmytro Lubinets, an den Exekutivsekretär der zivilen Organisation Ukrainische Pazifistische Bewegung, Yurii Sheliazhenko, vom 03.03.2023 (Nr. 241.8/Ш/160.7/23/23/55): "Rechtsnormen, nach denen das Recht des Staates, seine Bürger zum Militärdienst zu verpflichten, sind nicht absolut und durch das Recht jeder Person beschränkt, den Militärdienst zu verweigern, insbesondere aus religiösen Gründen, wie in internationalen Verträgen festgelegt, deren Rechtsverbindlichkeit die Werchowna Rada der Ukraine zugestimmt hat, insbesondere in Artikel 9 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (nachstehend Konvention genannt), sowie in Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Zugleich ist das Recht, den Militärdienst aufgrund religiöser Überzeugungen zu verweigern, absolut. Daher darf der Staat die Freiheit der Religionsausübung nicht durch die Wehrpflicht einschränken. Obwohl das Verfahren zur Lösung der Frage der Zuweisung zu einem alternativen (nicht-militärischen) Dienst durch die Bestimmungen des ukrainischen Gesetzes ‚Über den alternativen (nicht militärischen) Dienst‘ geregelt ist, das keine Rechtsnormen bezüglich der Einberufung von Bürgern der Ukraine zum Militärdienst während der Mobilisierung enthält, haben die Verfassung der Ukraine und internationale Verträge eine höhere Rechtskraft (Vorrang vor nationalen Gesetzen), und daher ist das Recht einer Person auf Ableistung eines Alternativen Dienst (d.h. Ausnahme zur Ableistung des Militärdienstes aufgrund der Wehrpflicht) absolut und darf nicht durch das Fehlen (Fehlen einer gesetzlichen Regelung in der Ukraine) eines Verfahrens zur Ersetzung des Militärdienstes durch Alternativen Dienst während des Kriegsrechts eingeschränkt werden."10

Da privilegierte Konfessionen, die traditionell für den Alternativen Dienst zugelassen sind, besondere Beziehungen zu den Militärbehörden aufgebaut haben, nicht bereit sind, sich öffentlich für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einzusetzen, bezeichnen sie sich selbst fast nie als pazifistische Kirchen. Als Belohnung für diese Loyalität, öffentliche Unterstützung der Armee und der Kriegsanstrengungen, humanitäre Hilfe für Armee und Bevölkerung und manchmal aufgrund von Korruptionsvereinbarungen, konnten solche kleinen und insularen Gemeinden oder zumindest Mitglieder ihrer führenden Familien, von einigen Lasten der Mobilisierung verschont werden, und ihre männlichen Geistlichen durften sogar ins Ausland reisen. Es gibt Anzeichen dafür, dass das Militär Druck auf Religionsgemeinschaften ausübt, zum Beispiel, als ein Rekrutierungszentrum erfolgreich die Untätigkeit der Polizei vor Gericht anfocht, nachdem sich die Polizei weigerte, nach einer strafrechtlichen Ermittlung eine Strafanzeige einzuleiten. Das geschah bei einem Kriegsdienstverweigerer, der der Militärdienstentziehung angeklagt wurde und einer der privilegierten Kirchen angehört.

Während die Armee darauf besteht, dass der Alternative Dienst während des Kriegsrechts nicht erlaubt ist, haben die lokalen Verwaltungen (die mit der Verhängung des Kriegsrechts in lokale Militärverwaltungen umgewandelt wurden) diese Position mehr oder weniger übernommen, andere sind aber davon abgewichen. Nach eigenem Ermessen gestatten die lokalen Militärverwaltungen in einigen Fällen Kriegsdienstverweigerern, ihren Alternativen Dienst unter Kriegsrecht fortzusetzen (zumindest in 18 der 24 Oblaste und der Stadt Kiew); sie verlängerten die Dauer des Alternativen Dienstes bis zum Ende des Kriegsrechts und bewahrten die Dienstleistenden vor der Verpflichtung zu militärischen Diensten und dem Risiko, nach dem Ende des Alternativen Dienstes einberufen zu werden (Brovary, Oblast Kyiv); Sie bewilligten Anträge auf Alternativen Dienst oder hielten das Verfahren aufrecht (Gebiete Dnipropetrowsk, Tschernihiw und Sumy, Stadt Kiew). Es gibt jedoch auch viele Fälle, in denen lokale Verwaltungen Anträge von Kriegsdienstverweigerern abgelehnt oder den Alternativen Dienst unter Kriegsrecht beendet haben. Die lokale Militärverwaltung in Iwano-Frankiwsk lehnte zum Beispiel im Jahr 2022 117 (d. h. 100% der) Anträge ab, von denen 104 unter Kriegsrecht gestellt worden waren. In der Oblast Kiew wurde einigen Kriegsdienstverweigerern erlaubt, den Alternativen Dienst fortzusetzen, während er für andere beendet wurde.

Eine Umfrage der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung ergab Ende 2022 einen Rückgang von 53% bei der Zahl der Kriegsdienstverweigerer in den Regionen, in denen die lokalen Militärverwaltungen relevante Zahlen zur Verfügung stellten (Eine ablehnende Antwort wurde begründet mit "Diese Informationen werden zu einer Waffe und ihre Verbreitung könnte die Sicherheit der Menschen gefährden"). In Ermangelung aktueller Informationen aus Volyn, Mykolaiv, Poltava, Rivne, Kherson und Cherkasy können wir bestätigen, dass im Jahr 2022 in der Ukraine 617 Personen im Alternativen Dienst tätig waren, im Vergleich zu 1.659 im Jahr 2021.

Die schikanöse Behandlung von Verweigerern, mangelnde Achtung der Menschenrechte und der Friedenskultur in der Gesellschaft, hält das schändliche Stigma der Kriegsdienstverweigerung aufrecht. Es sind Faktoren die den Unterschied zwischen Kriegsdienstverweigerung und Militärdienstentziehung verwischen. Ohne angemessene Friedensstudien, die Legitimierung von Kriegsdienstverweigerung und die Entwicklung von legalen Friedensbewegungen, die transparent finanziert werden, ethisch konsistent sind und zumindest von der Elite toleriert werden (wenn nicht sogar unterstützt), ist diese unmoralische Aushöhlung unvermeidlich.

Unter diesen Umständen sind die üblichen Wege, sich der Militärdienstpflicht zu entziehen, abgesehen von den eingeschränkten gesetzlichen Ausnahmen und Zurückstellungen (von denen vielleicht nur die Immatrikulation an Hochschulen möglich ist; die Zahl der männlichen Studenten in bezahlten Kursen hat sich fast verdoppelt), die Erfassung zu vermeiden, keine Rekrutierungsbüros aufzusuchen oder die Begegnung mit Beamten zu umgehen, die Vorladungen zustellen (manche ziehen es vor, zu diesem Zweck zu Hause zu bleiben).

Außerdem gibt es einen Schattenmarkt, auf dem Bestechungsgelder von Militärdienstentziehern erpresst werden und Korruptionsdienste verkauft werden wie z.B. betrügerische Freistellungen und grenzüberschreitender Schmuggel.

Die Zahl der Personen, die wegen versuchten illegalen Grenzübertritts bestraft wurden, stieg von 2.159 im Jahr 2021 auf 5.707 im Jahr 2022; nach Angaben des staatlichen Grenzschutzes der Ukraine wurden in einem Jahr des Kriegsrechts (März 2022-März 2023) 11.000 Personen aufgegriffen beim Versuch, die Ukraine zu Verlassen. Zusätzlich wurden 4.000 "Ausreißer" an Grenzkontrollpunkten angehalten, als sie versuchten, die Ukraine mit gefälschten Dokumenten oder auf andere illegale Weise zu verlassen. In der Regel kaufen die Menschen anonyme Genehmigungen für den Grenzübertritt, auf diese Weise schützen sich die Menschenhändler, aber im Jahr 2022 wurden 120 Personen wegen Menschenhandels verurteilt im Vergleich zu 60 im Jahr 2021. Die Entscheidung für den Schwarzmarkt ist verständlich, denn ein Student, dem die Ausreise aus der Ukraine untersagt wurde, drohte mit Selbstmord, andere Studenten organisierten regelmäßig Proteste am Checkpoint Shegyni und wurden von Grenzwächtern geschlagen.

Im Jahr 2022 war es möglich, auf dem Schwarzmarkt für mehrere Tausend Dollar eine Erlaubnis zu kaufen, als Fahrer eines Lastwagens für humanitäre Hilfe ins Ausland zu fahren, auch wenn man keinen Führerschein hat. Praktiken ungerechtfertigter Bereicherung von Militärkommissaren und anderen Beamten, die berechtigt sind, Genehmigungen für eine Ausreise zu erteilen und die sich bezüglich der Militärdienstpflicht korrupt verhalten, sind gut bekannt. Strafverfolgungsbehörden berichten regelmäßig über Verhaftungen, aber niemand wagt es, die Regeln des grausamen "Spiels" zu ändern, um es für diejenigen fairer zu machen, die sich weigern zu töten.

Kriegsdienstverweigerer werden in der Regel wie Militärdienstentzieher nach Artikel 336 des Strafgesetzbuches der Ukraine behandelt, selbst wenn ihre Erklärungen durch eine Untersuchung oder ein Gericht belegt sind. Die Militärdienstentziehung während der Mobilisierung, in besonderen Zeiten oder durch Reservisten wird mit drei bis fünf Jahren Freiheitsentzug bestraft. Nach dem Verfahrensrecht kann das Gericht die Strafe aussetzen, die Haftstrafe durch Bewährung ersetzen oder verkürzen.

Vitaly Alekseenko, ein protestantischer Christ, Kriegsdienstverweigerer und Binnenvertriebener, wurde wegen seiner Weigerung zu töten zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt und inhaftiert, nachdem das Kassationsgericht das Urteil bestätigte.11 Die Präsidentin von EBCO, Alexia Tsouni, besuchte den Gewissensgefangenen in der staatlichen Anstalt "Kolomyiska Correctional Colony (No. 41)" und übergab ihm Postkarten mit Solidaritätsbekundungen von einer Reihe von Einzelpersonen und Organisationen in verschiedenen Ländern (Belgien, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Italien, Niederlande, Türkei und Ukraine), sowie Fotos von Protestaktionen gegen seine Inhaftierung vor ukrainischen Botschaften weltweit.12 Bei der öffentlichen Anhörung im Europäischen Parlament forderte EBCOs Vizepräsident Sam Biesemans seine sofortige und bedingungslose Freilassung, Dietmar Köster MdEP unterstützte diese Forderung.13 Der Oberste Gerichtshof setzte die Anhörung in Alekseenkos Fall auf den 25. Mai 2023 an, lehnte es jedoch ab, seine Inhaftierung für der Dauer des Verfahrens auszusetzen.

Andrii Vyshnevetsky, ein christlicher Pazifist, wird in einer Fronteinheit der Streitkräfte der Ukraine festgehalten, obwohl er seine Kriegsdienstverweigerung erklärt und um Entlassung gebeten hatte. Das Kommando der Bodentruppen verweigerte ihm das Recht auf Entlassung und berief sich dabei auf die geltenden gesetzlichen Vorschriften für den Militärdienst und auf Präsidialerlasse. Er reichte Klage ein, in der er den Obersten Gerichtshof aufforderte, Präsident Selenskyj anzuweisen, das Verfahren zur Entlassung aus dem Militärdienst aus Gewissensgründen einzuführen; die Anhörung in seinem Fall ist für den 22. Mai 2023 angesetzt.

Ruslan Kotsaba, ein Journalist und christlicher Pazifist, der aufgrund eines 2015 auf YouTube veröffentlichten Blogs, in dem er zum Boykott der Mobilisierung für den bewaffneten Konflikt in der Ostukraine aufrief, wegen Hochverrats und Behinderung der Arbeit der Armee angeklagt ist, befand sich zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts noch in einem Verfahren. Er befand sich über 500 Tage in Untersuchungshaft,14 wurde von Amnesty International als Gewissensgefangener adoptiert und vom US-Außenministerium zum politischen Gefangenen erklärt. 2016 wurde er freigesprochen und freigelassen, dann aber hob ein höheres Gericht unter dem Druck des bewaffneten Mobs sein Urteil auf und ordnete eine Wiederaufnahme des Verfahrens an, in dessen Verlauf der gewalttätige Mob zweimal ungestraft ihn und seine Anwältin angriff, selbst nachdem sein Auge mit einem leuchtend grünen Farbstoff verletzt wurde. Im Jahr 2022 gelang es Kotsaba die Ukraine zu verlassen. Er nimmt an den Verfahren online von der ukrainischen Botschaft in den Vereinigten Staaten aus teil, aber er befürchtet, dass das Gericht unter dem wachsenden politischen Druck seine Auslieferung an die Ukraine veranlassen könnte. Seine Anwältin Svitlana Novytska erklärt die Eile bei der Verurteilung damit, dass er, wie andere vermeintlich "prorussische" Persönlichkeiten, fälschlicherweise als wertvolles Material für den Austausch von Kriegsgefangenen mit Russland betrachtet werden könnte, obwohl dies unwahrscheinlich ist, da er Putin öffentlich für seinen aggressiven Krieg kritisiert hat. EBCO fordert, alle Anklagen gegen Ruslan Kotsaba fallen zu lassen.15, 16

Mykhailo Yavorsky, ein christlicher Kriegsdienstverweigerer, erklärte, er könne keine Waffe in die Hand nehmen, keine Militäruniform tragen und keine Menschen töten, weil er gläubig ist und eine Beziehung zu Gott hat. Er wurde am 6. April 2023 vom Gericht der Stadt Iwano-Frankiwsk zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt. Er will in Berufung gehen; EBCO fordert seinen Freispruch.17

Hennadii Tomniuk, ein christlicher Kriegsdienstverweigerer, der in seinen Veröffentlichungen alle Kriege und Gewalt anprangert und Mitglied der evangelisch-christlich-baptistischen Kirche ist, deren Lehren mit dem Militärdienst unvereinbar sind, wurde zu einer dreijährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt.18 Das Berufungsgericht lehnte sowohl den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Umwandlung der Bewährungsstrafe (Bewährung) in eine Freiheitsstrafe ab, als auch Tomniuks Antrag auf Freispruch.

Auch eine Reihe anderer Verweigerer wurden von den Gerichten wegen ihrer Weigerung, zu töten, mit Bewährungsstrafen belegt: Andrii Kucher, ein Unternehmer, der sich aufgrund seiner pazifistischen Ansichten weigerte zu töten, wurde zu einer 4-jährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt; Dmytro Kucherov, ein protestantischer Kriegsdienstverweigerer, Mitglied der Kirche "Quelle des Lebens", Andrii Martiniuk, ein christlicher Kriegsdienstverweigerer, Oleksandr Korobko und Maryan Kapats, die sich weigerten zu töten, wurden zu Gefängnisstrafen von 3 Jahren auf Bewährung verurteilt.

Während der interaktiven Dialoge zu den Berichten des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte über die Lage in der Ukraine äußerte der Internationale Versöhnungsbund (IFOR) seine Besorgnis über die Verletzung des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine, wo die allgemeine Mobilisierung zur Armee ohne Ausnahmen für Kriegsdienstverweigerer durchgesetzt wird und Einberufungsbefehle an öffentlichen Orten, einschließlich Kirchen, ausgeteilt werden. Der Versöhnungsbund berichtete über die derzeitige Aussetzung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine, die daraus resultierenden Haftstrafen, das Reiseverbot für alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren und die Unterdrückung von Studentenprotesten gegen das Verbot des Studiums im Ausland.

Darüber hinaus äußerte der Versöhnungsbund seine Besorgnis über die Zwangsmobilisierung von Militärdienstpflichtigen in den von der Russischen Föderation besetzten ukrainischen Gebieten.19, 20, 21

In den abschließenden Bemerkungen zum 8. periodischen Bericht der Ukraine22 betonte der UN-Menschenrechtsausschuss, dass Alternativen zum Militärdienst allen Kriegsdienstverweigerern zur Verfügung stehen sollten, ohne Diskriminierung hinsichtlich der Art ihrer Überzeugungen, die die Verweigerung rechtfertigen (seien es religiöse oder nicht-religiöse, auf dem Gewissen beruhende Überzeugungen), und dass sie im Vergleich zum Militärdienst weder Strafcharakter haben dürfen noch diskriminierend sein dürfen in Bezug auf Art oder Dauer. Die Ukraine hat jedoch keine Maßnahmen ergriffen, um die Gesetzgebung im Sinne dieser Empfehlungen zu ändern. In Beantwortung von Briefen der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung an die Werchowna Rada (Parlament) der Ukraine im September 2022 über die Fortschritte bei der Umsetzung dieser Empfehlungen, leitete der parlamentarische Ausschuss für Menschenrechte das Schreiben an das Justizministerium weiter, das seinerseits antwortete, die Frage falle in die Zuständigkeit des Verteidigungsministeriums. Der parlamentarische Ausschuss für nationale Sicherheit, Verteidigung und Geheimdienst antwortete, dass Vorschläge zur Änderung der Gesetzgebung, um internationalen Menschenrechtsstandards zu entsprechen unter den Abgeordneten verbreitet werden. Im Februar 2023 teilte der parlamentarische Ausschuss für Menschenrechte mit, dass Fragen des Alternativen Dientes in den Zuständigkeitsbereich des Ausschusses für nationale Sicherheit, Verteidigung und Nachrichtendienste fallen, der schrieb, dass der Alternative Dienst nur anstelle einer zeitlich begrenzten (friedensmäßigen) Militärdienstpflicht erlaubt werden könne, unter Berufung auf veraltetes Gesetzesrecht ohne jeglichen Bezug zu den Menschenrechten.

In seinen abschließenden Bemerkungen zum 8. periodischen Bericht der Ukraine äußerte der UN-Menschenrechtsausschuss auch seine Besorgnis über Berichte, wonach Militärdienstpflichtige, einschließlich Kriegsdienstverweigerer, gejagt und gegen ihren Willen an militärische Sammelplätze gebracht werden und über Militärdienstpflichtige, die willkürlich inhaftiert werden; er ist auch besorgt über das Fehlen von Informationen über Ermittlungen und Strafverfolgung der Verantwortlichen in solchen Fällen. Die Ukraine ist der Empfehlung nicht nachgekommen, dass der Vertragsstaat sicherstellen sollte, dass Fälle von Entführung und willkürlicher Inhaftierung von Militärdienstpflichtigen unverzüglich, gründlich und unabhängig untersucht werden, dass die Täter strafrechtlich verfolgt und bestraft werden und dass die Opfer wirksame Rechtsmittel, einschließlich einer angemessenen Entschädigung, zur Verfügung gestellt werden. In Beantwortung einer Anfrage über solche Untersuchungen und ergriffene Maßnahmen hat die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine, die alle strafrechtlichen Ermittlungen in der Ukraine beaufsichtigt, in einem Schreiben vom 10. Februar 2023 geschrieben, dass ihr keine öffentlichen Informationen zu dieser Frage vorliegen.

Fußnoten

1 Ukraine: Vitaly Alkeseenko is a prisoner of conscience and should be released immediately and

unconditionally, https://ebco-beoc.org/node/553

2 Robeyko Olga: Der Anwalt kommentierte das Video, das zeigt, wie Ukrainer gewaltsam in Militärkommissariate gebracht werden, UNIAN, 18.03.23 (auf Ukrainisch), https://www.unian.ua/society/viyskovozobov-yazanih-ukrajinciv-pakuyut-v-avto-y-tyagnut-do-viyskkomatu-advokat-poyasniv-chi-zakonno-ce-12183474.html

3 Gewaltsame Inhaftierung eines Mannes während der Zustellung von Einberufungsbefehlen in Odessa: Eine offizielle Untersuchung ist geplant (Video), TSN 23.01.23 (auf Ukrainisch), https://tsn.ua/ukrayina/zhorstke-zatrimannya-viyskovozobov-yazanogo-v-odesi-priznacheno-sluzhbovu-perevirku-video-2249212.html

4 Tetyana Lozovenko, Valentina Romanenko: Ein Mann aus Odessa wurde vom Militärkommissariat in der Mitte der Straße gewaltsam verhaftet. Das Operative Kommando Süd sagt: Die Schuldigen werden bestraft. Ukrainska Pravda, 14. Februar 2023 (auf Ukrainisch), https://www.pravda.com.ua/news/2023/02/14/7389339/

5 https://www.ohchr.org/en/documents/country-reports/situation-human-rights-ukraine-context-armed-attack-russian-federation

6 Amy Maguire: "Warum das Ausreiseverbot für Männer in der Ukraine gegen die Menschenrechte verstößt", https://de.connection-ev.org/article-3486; "Sasha und Nikita sind zwei junge Pazifisten, die nicht kämpfen wollen und jetzt als Binnenvertriebene in Lemberg festsitzen. Sie dürfen das Land nicht verlassen - allen ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 Jahren ist das untersagt", https://www.instagram.com/p/CaxMFGOKfW7/c/17920321619132077/

7 Die wesentlichen Probleme des Gesetzes von 1991 sind, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht anerkannt wird für (1) diejenigen, die keine religiösen Überzeugungen haben, die mit dem Militärdienst unvereinbar sind, (2) diejenigen, die nicht zu religiösen Organisationen bestimmter Konfessionen gehören, die in einem Regierungserlass festgelegt sind, und (3) diejenigen, die eine Kriegsdienstverweigerung entwickelt haben, während sie Militärdienst leisten. Außerdem ist eine unverhältnismäßig lange Dauer des Alternativen Dienstes vorgesehen, nämlich 1,5 Mal länger als der Militärdienst, ohne dass es dafür eine plausible Erklärung gibt. Auch das Verfahren zur Beantragung des Alternativen Dienstes  ist nicht gerecht.

8 https://www.ohchr.org/sites/default/files/documents/issues/2022-07-12/ukrainian-pacifist-movement-HRC50.pdf

9 Ukraine setzt Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus. Connection e.V., 05.09.2022 (in Englisch), URL: https://de.connection-ev.org/article-3613

10 Brief des Menschenrechtsbeauftragten des ukrainischen Parlaments Dmytro Lubinets, 3. März 2023, https://t.me/sheliazhenko/137

11 Felix Corley: Ukraine - Conscientious objector now jailed. Forum 18 vom 27. Februar 2023, https://www.forum18.org/archive.php?article_id=2813

12 https://ebco-beoc.org/node/560

13 https://ebco-beoc.org/node/555

14 https://www.ifor.org/news/2022/4/15/ifor-submission-for-the-un-ohchr-quadrennial-report-on-conscientious-objection-to-military-service

15 https://de.connection-ev.org/article-3609

16 https://www.ifor.org/news/2022/7/19/ifor-joins-international-press-release-on-the-case-of-pacifist-journalist-ruslan-kotsaba

17 https://ebco-beoc.org/node/561

18 IFOR stands up at the UN for conscientious objectors in Ukraine and refers the cases of Vitalii Alexeenko, Hennadii Tomniuk and Andrii Vyshnevetsky, 31. März 2023, https://www.ifor.org/news/2023/3/31/ifor-stands-up-at-the-un-for-conscientious-objectors-in-ukraine-and-refers-the-cases-of-vitalii-alexeenko-hennadii-tomniuk-and-andrii-vyshnevetsky

19 https://www.ifor.org/news/2022/7/5/ifor-addresses-the-un-human-rights-council-on-the-right-to-conscientious-objection-and-the-war-in-ukraine

20 https://www.ifor.org/news/2022/10/7/ifor-speaks-at-the-un-on-conscientious-objection-violations-and-peacebuilding-efforts-in-ukraine

21 https://www.ifor.org/news/2022/4/2/war-should-be-abolished-ifor-speaks-up-at-the-un-on-the-right-to-conscientious-objection-in-wartime

22 Human Rights Committee: Concluding observations on the 8th periodic report of Ukraine, 9. Februar 2022, URL: https://digitallibrary.un.org/record/3957960?ln=en

European Bureau for Conscientious Objection: Annual Report. Conscientious Objection to Military Service in Europe 2022/23. Auszug zu “Ukraine”, Seite 82ff. Übersetzung: Marah Frech. https://ebco-beoc.org/sites/ebco-beoc.org/files/attachments/2023-05-12-EBCO_Annual_Report_2022-23.pdf. 15. Mai 2023

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