Länderportrait Ukraine

Militärdienst und Kriegsdienstverweigerung

(08.10.2023) In der Ukraine besteht Militärdienstpflicht für alle Personen, die laut Pass als männlich gelten. Da wir drauf aufmerksam machen wollen, dass dazu auch Personen zählen, die nicht männlich sind oder sich nicht als solche identifizieren, verwenden wir eine geschlechtsneutrale Schreibweise.

Militärdienst und Kriegsdienstverweigerung

Am 3. März 2022 hat das ukrainische Parlament nach Angaben des Pressedienstes des Parlaments den Präsidialerlass „Über die allgemeine Mobilisierung" verabschiedet und damit die allgemeine Mobilisierung der Ukraine veranlasst.

Während der Mobilisierung besteht die Militärdienstpflicht für alle männlichen Staatsbürger*innen zwischen 18 und 27 Jahren, unbefristet. Zuvor war die Dauer des Militärdiensts auf 18 Monate im Allgemeinen und für Studierende auf 12 Monate begrenzt. Ebenso wurde die Möglichkeit des „Alternativen Dienstes“ mit Beginn des Krieges gestrichen. Das Höchstalter für den Militärdienst variiert je nach Dienstgrad zwischen 45 und 65 Jahren, sodass männliche ukrainische Staatsbürger*innen bis zu einem Alter von 60 Jahren rekrutiert werden können. Sie dürfen das Land seit 25. Februar 2022 nicht mehr auf legalen Weg verlassen. Auch Personen, die in den besetzen Gebieten der Ostukraine gelebt haben und laut Genfer Flüchtlingskonvention nicht mobilisiert werden dürften, sind von der Mobilisierung betroffen.

Frauen sind in der Ukraine nach wie vor nicht militärdienstpflichtig und dürfen das Land daher verlassen. Jedoch müssen sich alle Staatsbürger*innen – unabhängig des Geschlechts – im Alter von 18 bis 60 Jahren militärisch registrieren, die einen Beruf ausüben, der in einer vom Verteidigungsministerium der Ukraine herausgegebene Liste auftaucht und die aufgrund ihrer Gesundheit und ihres Alters für den Militärdienst geeignet sind. Bereits am 27. Dezember 2021 berichtete die Website Military.Com (eine Nachrichten- und Informationswebsite für Militärangehörige, Veteran*innen und ihre Familien) über eine erhebliche Erweiterung dieser Liste. Nach dem aktualisierten Gesetz können ukrainische Frauen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren für den Militärdienst als reguläre Soldat*innen mobilisiert werden, und im Alter zwischen 20 und 50 Jahren für den Dienst als Offizier*innen. Sie werden nicht ohne ihre Zustimmung rekrutiert, aber riskieren, keine Arbeit zu finden, wenn sie sich nicht registrieren lassen.

Ausnahmeregelungen

Gemäß dem ukrainischen Gesetz über die Wehrpflicht und den Militärdienst (Teil 1, Art. 14) unterliegen ukrainische Staatsbürger*innen, die Strafen in Haftanstalten verbüßen, nicht der Registrierungspflicht. In Friedenszeiten waren zudem bestimmte Personengruppen aufgrund von Krankheit, Überschreiten der Altersgrenze von 25 Jahren oder der Pflege von Angehörigen von der Militärdienstpflicht befreit. Das ukrainische Gesetz über die Wehrpflicht und den Militärdienst listet ebenfalls verschiedene Gründe auf, die zu einem Aufschub der Einberufung führen können und auf familiären, erzieherischen und beruflichen Gründen beruhen (Teil I, Artikel 17).

Mittlerweile wurden jedoch die Tauglichkeitskriterien erweitert, Ausnahmeregelungen eingeschränkt und Strafen erhöht. So fallen nur noch männliche Staatsbürger*innen unter die Ausnahmeregelung, die aus gesundheitlichen Gründen einen sechsmonatigen Aufschub erhalten; die das alleinige Sorgerecht, mindestens drei unterhaltspflichtige Kinder oder ein behindertes Kind unter 18 Jahren haben; oder bestimmten wissenschaftlichen Berufen an Hochschulen nachgehen bzw. in Vollzeit- oder dualen Ausbildungsformen studieren. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) berichtete, dass männliche Staatsbürger*innen mit Behinderungen im militärdienstpflichtigen Alter (18-60 Jahre) das Land verlassen dürfen, wenn sie Dokumente vorlegen, die ihre Behinderung bescheinigen, und sie daher nicht mehr verpflichtet sind.

Weitere Informationen zur rechtlichen Situation der Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine finden sich im Jahresbericht 2022/23 des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung (EBCO).

Repressionen bei Kriegsdienstverweigerung

Seit Beginn des Krieges wird in der Ukraine verschärft gegen Kriegsdienstverweiger*innen vorgegangen. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wurde ausgesetzt, obwohl es ein allgemein anerkannter Bestandteil des Rechts auf Gewissensfreiheit ist, zu dessen Gewährleistung die Ukraine gemäß Art. 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte verpflichtet ist. Neben der Verankerung in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 9), garantiert auch die ukrainische Verfassung, dass dieses Recht durch die Mobilmachung nicht ausgesetzt werden darf (Art. 35). In der Praxis drohen Verweigerer*innen jahrelange Haftstrafen oder gar der Einsatz an der Front. Kriegsdienstverweigerer zahlen zum Teil hohe Summen an Bestechungsgeldern, um der Einberufung zu entgehen. 

Mittlerweile sind zahlreiche Verurteilungen von Kriegsdienstverweiger*innen bekannt geworden. Allein im Jahr 2022 wurden 298 Personen wegen Mobilisierungsverweigerung verurteilt (Art. 335, Art. 336). Laut der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung wurden beispielsweise Kucherov Dmytro Mykolayovych, Kapats Maryan Vitaliyovych und Korobko Oleksandr Olehovych zu je drei Jahren auf Bewährung und Kucher Andrii Volodymyrovych zu vier Jahren auf Bewährung verurteilt. Der Kriegsdienstverweigerer Vitaliy Alekseienko, der sich aus religiösen Gründen geweigert hat, in der ukrainischen Armee zu dienen, wurde im September 2022 von einem Gericht in Iwano-Frankiwsk wegen „Verweigerung des Militärdienstes während der Mobilmachung“ (Art. 336) zu einer Haftstrafe von einem Jahr verurteilt. Er legte erfolgreich Widerspruch gegen das Urteil ein und wurde am 25. Mai 2023 aus dem Gefängnis entlassen. Der Oberste Gerichtshof der Ukraine ordnete daraufhin die Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Gericht erster Instanz an.

Flucht ins Ausland

Nach Schätzungen haben mittlerweile mehr als 175.000 ukrainische Männer im militärdienstpflichtigen Alter das Land verlassen, zumeist in Richtung der Europäischen Union. Bis einschließlich Juli 2022 haben die ukrainischen Behörden 5.000 Strafverfahren wegen Militärdienstentziehung und Desertion eröffnet. Darüber hinaus gibt es 8.000 Verfahren wegen illegalen Grenzübertritts. Weitere 3.000 Personen wurden von ukrainischen Grenzsoldat*innen wegen falscher Papiere festgenommen. Zudem sind 2022 mindestens 15 Menschen bei dem Versuch, unentdeckt die rumänische Grenze zu überqueren, ums Leben gekommen. Viele verstecken sich noch immer, um nicht rekrutiert zu werden.

Aufenthalt und Asyl in Deutschland

Wer es in die Europäische Union geschafft hat, kann dort vorerst bleiben. Mit einem Beschluss des Rates der Europäischen Union wurde im März 2022 die Anwendung der Aufnahmerichtline (2001/55/EG) erlaubt, die als „Massenzustromrichtline“ bekannt wurde. Nach der Umsetzung der Aufnahmerichtlinie vom 14. März 2022 genießen ukrainische Staatsangehörige und Nicht-Ukrainer*innen mit einem dauerhaften Aufenthaltstitel in der Ukraine, die eine gültigen Pass haben und am 24. Februar 2022 in der Ukraine lebten, das Recht auf einen befristeten humanitären Aufenthalt in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – ob sie militärdienstpflichtig sind spielt dabei keine Rolle.

Die Aufnahmerichtlinie läuft nach derzeitiger Europäischer Rechtsprechung nach maximal drei Jahren aus, das ist im März 2025 der Fall. Was danach passieren wird, ist noch unklar. Bis zu diesem Zeitpunkt wird eine Aufenthaltsverfestigung (etwa durch eine Niederlassungserlaubnis) nicht möglich sein, da diese einen 5-jährigen Aufenthalt in der EU voraussetzt. Dementsprechend kann es durchaus sein, dass ukrainische Flüchtlinge – und mit ihnen Militärdienstpflichtige – in die Ukraine zurückkehren müssen. Bereits heute befinden sich einige Militärdienstpflichtige in einer schwierigen Situation: Wenn sie keinen gültigen Pass haben, müssen sie sich an ein ukrainisches Konsulat wenden, um den humanitären Aufenthalt in der EU nicht zu verlieren; dort droht die Aufforderung, sich beim Militär zu melden.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyji hat im September 2023 angekündigt, Auslieferungsanträge an die EU zu stellen. Daher gehen wir davon aus, dass ukrainische Konsulate und Botschaften möglicherweise die Anweisung erhalten, Reisepässe nicht mehr zu verlängern oder auszustellen, um ukrainische Staatsbürger*innen zur Ausreise zu zwingen.

An dieser Stelle bleibt ihnen noch die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Ob der Grund der drohenden Strafverfolgung bei Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine ausreicht, um Schutz zu erhalten, ist allerdings fraglich. Die Rechtsprechung erkennt Kriegsdienstverweigerung und Desertion nur in zwei Fällen als schutzwürdig an: Wenn a) die Verfolgung Betroffener als ein politischer Akt angesehen wird oder es b) zu einer „übermäßigen Bestrafung“ kommt. Für Militärdienstentziehende gilt dies jedoch nach wie vor nicht. In Frage kommen könnte ein Abschiebeschutz, weil das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Ukraine nicht eingehalten wird.

Die Ankündigung des ukrainischen Präsidenten, Auslieferungsanträge an die EU zu stellen, zielt darauf ab, all jene Ukrainer zu rekrutieren, die vor dem Kriegsdienst geflohen sind und derzeit aufgrund der Umsetzung der Aufnahmerichtlinie (2001/55/EG) vom 14. März 2021 einen befristeten humanitären Aufenthalt in Staaten der Europäischen Union genießen. Es ist jedoch nach wie vor unklar, ob nur ein bestimmter Teil militärdienstpflichtiger Staatsbürger*innen gemeint ist, die z.B. illegal das Land verlassen oder Bestechungsgelder gezahlt haben, oder ob sich Selenskyji auf alle Militärdienstpflichtigen bezieht. Ohnehin ist ein Auslieferungsverfahren ein komplizierter und langwieriger Prozess.

Hinzu kommt, dass gemäß Artikel 4 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens die Auslieferung bei Militärstrafvergehen ausgeschlossen ist. Die Überstellung von Militärdienstpflichtigen (die keine weiteren Straftaten wie z.B. Urkundenfälschung begangen haben) ist daher illegal – dies gilt für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

Sowohl das österreichische Justizministerium als auch das schweizerische Justizministerium haben im vergangenen September offiziell bestätigt, dass sie ukrainische Deserteur*innen und Militärdienstentziehende nicht an die Ukraine ausliefern werden. Die deutsche Bundesregierung erklärte lediglich, sich im Falle von Auslieferungsanträgen durch die Ukraine auf das Europäische Auslieferungsübereinkommen zu stützen.

Marah Frech: Länderportrait Ukraine – Militärdienst und Kriegsdienstverweigerung. 8. Oktober 2023

Stichworte:    ⇒ Desertion   ⇒ Kriegsdienstverweigerung   ⇒ Ukraine   ⇒ Wehrpflicht