Ercan Aktaş (links) und Halil Savda, September 2017

Ercan Aktaş (links) und Halil Savda, September 2017

Türkei: Kriegsdienstverweigerer unter dem Ausnahmezustand

Gespräch mit dem Kriegsdienstverweigerer Ercan Aktaş

von Zeynep Koçak

(30.09.2017) Zeynep Koçak führte im September 2017 für das online-Netzwerk Kopuntu ein Gespräch mit dem Autor und Journalisten Ercan Aktaş. Er ist Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei und lebt inzwischen im Exil in Paris.
Die Türkei erkennt die Kriegsdienstverweigerung nicht an. Es gibt keine gesetzlichen Regelungen dazu. Deshalb werden Kriegsdienstverweigerer als Deserteure angesehen. Nach Verbüßung einer Haftstrafe müssen sie erneut zum Militärdienst.
Auch wenn in der Türkei nur Männer wehrpflichtig sind, gibt es einige Frauen, die ihre Kriegsdienstverweigerung erklärten, weil sie dies als Form des Widerstandes ansehen. Das Gespräch beschäftigt sich aber vor allem mit der Situation der männlichen Verweigerer und Deserteure in der Türkei.

Unter dem Ausnahmezustand

Zeynep Koçak: Hallo Ercan. Als ich über die Kriegsdienstverweigerung nachdachte, fiel mir auf, dass wir bei unserem letzten Gespräch gar nicht über die Folgen des Ausnahmezustandes auf das Alltagsleben der Verweigerer gesprochen haben… Lass uns aber zunächst mit etwas anderem beginnen. Kannst Du uns den Putsch vom 15. Juli 2016 aus Deiner Sicht schildern? Was bedeutete er für Dich und wie passt das ins allgemeine Bild?
Ercan Aktaş: Hallo Zeynep. Zunächst möchte ich sagen, wie schon in unserem ersten Gespräch: Man kann die Erfahrungen der in der Türkei lebenden Kriegsdienstverweigerer als „Zivilen Tod“ bezeichnen. Der Ausnahmezustand hat auch sehr große Konsequenzen für das alltägliche Leben. Er beeinflusst auch die Strafverfahren zur Kriegsdienstverweigerung. Mit dem Ausnahmezustand wurde das Leben für alle Zusammenhänge, Gruppen und Einzelpersonen schwieriger, die sich für Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit einsetzen. Wir sagen: Was am 15. Juli 2016 geschah, war wirklich ein Putsch.

Zeynep Koçak:
Was heißt das? Der Putsch erfolgte im Zusammenwirken von AKP und der (ultranationalistischen Partei) MHP. Es ist, so sehe ich das, eine Rückkehr zu rassistischen, militaristischen und monolithischen Prinzipien eines nationalen Staates, wie sie 1914 eingeführt wurden durch die „teşkilat-ı mahsusa“, einer Spezialeinheit der Jungtürken, die an dem Völkermord an den ArmenierInnen beteiligt war. Wer dieser rassistischen Politik der Turkisierung nicht folgt, steht im Vergleich zu den früheren Staatsstreichen in nichts besser da.
Was ist Deine Meinung dazu? Würdest Du sagen, dass sich Gruppen, die sich im Widerstand befinden, mit ihren unterschiedlichen Zielen, Standpunkten und Visionen einer Gesellschaft zusammenschließen können, zumindest bezüglich gemeinsamer Ideen angesichts dieser militaristisch-rassistischen Politik?
Ercan Aktaş: Selbstverständlich ja. Als Kriegsdienstverweigerer sind wir seit Jahren Teil eines gemeinsamen Kampfes von Gruppen und Personen, die ähnliche Ideen von Freiheit haben. Wir haben immer gesagt, dass es in der Türkei keine Freiheit geben wird, solange es keinen Gesellschaftsvertrag für einen sozialen Frieden gibt. Wenn irgendjemand von uns nicht frei ist, sind wir es alle nicht.

Zeynep Koçak: Der gemeinsame Feind: die rassistische, militaristische und monolithische Politik… Uns von dem patriarchalen System zu befreien ist auch Teil unseres gemeinsamen Kampfes…
Ercan Aktaş: Unbedingt… Trotz aller unserer Bemühungen konnten wir das patriarchale und militaristische System nicht zurückdrängen und einen sozialen Frieden in der Türkei etablieren. Heute müssen wir mehr als jemals zuvor darunter leiden.

Wo stehen die Kriegsdienstverweigerer?

Zeynep Koçak: Wo stehen da die Kriegsdienstverweigerer?
Ercan Aktaş: Im Zentrum von all dem. Jeder Verweigerer sieht sich zentral der Unterdrückung und Gewalt des Regimes ausgesetzt.

Zeynep Koçak: Das Leben war für Verweigerer niemals einfach… Wir wissen das. Wie leben Verweigerer heutzutage, an einem Punkt, wo die Unterdrückung und Gewalt des Regimes zugenommen hat?
Ercan Aktaş: Du hast recht. Das Leben war für uns Verweigerer in der Türkei niemals einfach. Mit der Entscheidung zur Verweigerung mussten wir ein Leben ohne Adresse und Sicherheit in Kauf nehmen. Aber dank eines Solidaritätsnetzes, das wir aufgebaut hatten, webten wir zusammen ein Netz für „eine andere Welt“ und wir konnten uns dank der Solidarität all der Nachteile stellen. Unser Kampf machte uns stark. Das ist auch heute noch der Fall.

Zeynep Koçak: Aber mit dem Putsch am 15. Juli stieg die Unterdrückung rasant an. Verweigerer haben auch Familien. Und selbst wenn das nicht der Fall ist, es gibt auch für sie wirtschaftliche Notwendigkeiten. In den letzten Jahren wurden Verweigerer und Hunderttausende von Personen, die den Einberufungen nicht folgten, aus ihren Berufen gedrängt. Arbeitgeber wurden angewiesen, „keine Deserteure zu beschäftigen“. So etwas gab es niemals zuvor. Viele Verweigerer, die den Einberufungen nicht gefolgt sind und daher als Deserteure angesehen werden, verloren so ihre Arbeit. Gibt es noch mehr Schikanen?
Ercan Aktaş: Ja. Jeder von uns hat Mitteilungen über Geldstrafen von Tausenden von türkischen Lira erhalten. Beides, die Anweisungen gegenüber den Arbeitgebern und die Geldstrafen, haben den Druck auf uns erhöht. Und es ist schwieriger denn je geworden, gegen diese Unterdrückung zu kämpfen.

Zeynep Koçak: Was ist mit den verschärften Kontrollen, die mit dem System Genel Bilgi Tarama (GBT) durchgeführt werden? Das ist doch ein System, das einen direkten Zugriff auf die Daten einer zu kontrollierenden Person ermöglicht, also auch Verhaftungen in Hotels oder an anderen Orten, auf Straßen, möglich macht…
Ercan Aktaş: GBT-Kontrollen gab es auch schon früher. Aber mit dem Ausnahmezustand wurden diese verstärkt und systematischer durchgeführt. Für alle von uns sind die Straßen unserer Städte gefährlicher geworden. Es ist fast unmöglich, zu reisen, irgendwo unterzukommen und ein Leben mit einer irgendwie gearteten wirtschaftlichen Basis aufzubauen. All das war schon zuvor kompliziert. Mit der Einsetzung des Ausnahmezustandes muss ich feststellen, dass die Möglichkeiten für ein Überleben zerstört wurden. Das macht es Verweigerern und Deserteuren faktisch unmöglich, zu überleben.

Zeynep Koçak:
Und was hast Du gemacht? Du warst in Frankreich und hast gehofft, dass beim Referendum über die Verfassung das Nein-Lager gewinnt. Wir alle haben das gehofft. Du hast gesagt, „wenn das NEIN gewinnt, gehe ich zurück“. Aber das geschah nicht…
Ercan Aktaş: Natürlich habe ich unter den Repressionen gelebt, bevor ich hierherkam. Während der ersten Welle der Hausdurchsuchungen und Razzien, die in der Presse als „Operation gegen die sozialen Medien“ bekannt wurde, wurde das Haus meiner Familie durch Spezialkräfte mit gepanzerten Fahrzeugen durchsucht. Es gab schon einen Haftbefehl gegen mich. Aber ich war zu der Zeit nicht zu Hause. Ich wurde dann bei einer GBT-Kontrolle aufgegriffen und dem Staatsanwalt übergeben.

Zeynep Koçak: Worauf lautete die Anklage? Haben sie Dich nur verhaftet, weil Du keinen Militärdienst abgeleistet hast?
Ercan Aktaş: Nein. Es laufen drei Verfahren gegen mich. Das erste findet unter dem allseits bekannten § 301 statt, „Beleidigung des Staates, Diffamierung des Ansehens des Staates, der Armee, des Parlamentes“, das zweite unter dem Artikel 318, der „Distanzierung des Volkes vom Militär“ und dann noch wegen „Propaganda für eine terroristische Organisation in den sozialen Medien“.

Zeynep Koçak: Bist Du stolz auf diese Anklagen?
Ercan Aktaş: Vielleicht nicht stolz, aber mit all diesem habe ich meine politischen Überzeugungen ausgedrückt. Als ein Kriegsdienstverweigerer, der sich gegen Krieg und Militarismus wendet, spiegeln diese Anklagen meine Positionen gegen die rassistische und militaristische Politik wider, die durch den Staat produziert wird. Selbst die „Internationale Konferenz zur Kriegsdienstverweigerung“, die wir als Verein für Kriegsdienstverweigerung organisierten, wird als Beweis gegen mich verwendet. Natürlich ist die Anklage wegen „Beleidigung von Tayyip Erdoğan“ am bekanntesten.

Ein Leben im Exil

Zeynep Koçak: Du bist also nicht aus Frankreich zurückgekehrt?
Ercan Aktaş: Während die Verfahren liefen, war ich schon für Runde Tische in Paris und Lyon in Frankreich. Ich lebe nun seit etwa einem Jahr hier. Wir haben darüber in unserem ersten Interview gesprochen. Schließlich gab es einen weiteren Haftbefehl, der meiner Familie in Istanbul zugestellt wurde. Am 14. Mai 2005 hatte ich meine Kriegsdienstverweigerung erklärt und gesagt: „Ich will kein Instrument einer Kriegspolitik sein und ich werde diese Uniform nicht tragen“. Zwölf Jahre später erhielt ich den Haftbefehl und eine Geldstrafe von 7.000 Türkische Lira (ca. 1.600 €).

Zeynep Koçak:
Du hast die Türkei verlassen. Es war Dir möglich, das zu tun. Mit Mikail (Zeyneps Partner) habe ich mehr oder weniger das gleiche erlebt. Ich möchte dazu eine Frage stellen: Ist das Exil für die Türkei eine Methode, diejenigen loszuwerden, die keinen Militärdienst ableisten wollen?
Ercan Aktaş: Es gibt Hunderttausende in der Türkei die wie ich aus den verschiedensten Gründen keinen Militärdienst ableisten, seien sie nun Verweigerer oder auch nicht. Etwa 2.000 von ihnen sind Kriegsdienstverweigerer. Und die Situation ist genau so, wie Du sie beschreibst. Diesen Menschen wird gesagt: „Entweder trägst Du die Uniform oder Du verlässt das Land.“ Das führt zu einer sehr schwerwiegenden Vorverurteilung. Wegen ansteigender Repressionen, ist es auch nicht länger möglich, Netze der Solidarität zu weben, wie wir das vorher getan haben. So bleiben die Personen mit ihren Schwierigkeiten alleine und sind völlig isoliert.

Zeynep Koçak: Haben Dich diesbezüglich andere Personen um Rat gefragt, um Informationen über das Verfahren zu erhalten oder die Risiken solch einer Entscheidung für die Zukunft zu verstehen?
Ercan Aktaş: Fast jede Woche gab es jemanden, der mir über die sozialen Medien Fragen gestellt oder mir mitgeteilt hat: „Auch ich möchte nach Europa gehen“. Und ich habe ihnen gesagt, dass das Exil keine Lösung ist. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Ich bin in Europa. Ja, die Unterdrückung unseres Staates ist uns von den Schultern genommen worden, aber es ist wirklich nicht einfach fern von unseren Städten, den Straßen und den Menschen zu sein, mit denen wir lebten und mit denen wir unser Leben geteilt haben.
Das können nur die wissen, die es erleben… Aus der Ferne sieht das Leben in Europa glücklich und einfach aus. Ja, wir leben ruhiger ohne die Unterdrückung des Staates… Aber wir alle leben im Exil.
Ich möchte das betonen: Ich lebe nun seit elf Monaten hier in Frankreich. Aber es vergeht keine einzige Stunde, in der ich nicht unter Gefühlen des Heimwehs und der Leere leide. Es ist ein großer emotionaler Druck. Ich bin jemand, der auch im Gefängnis war – und nicht nur für kurze Zeit. Ich kann sagen, dass ich außerhalb der Periode, als der Staat Massaker in den Gefängnissen beging, psychisch nie so stark belastet war. Ich habe immer gesagt, „Heimweh ist schön“. Jetzt merke ich, wie töricht diese Aussage war…


Zeynep Koçak: Ich will Dir nicht die Worte in den Mund legen… Nur diejenigen, die es selbst erlebt haben, können wissen, welch emotionale Strafe es ist. Mir geht es so: Jedes Mal, wenn ich in die Türkei reise, habe ich Magenschmerzen vor der Passkontrolle. Meine Mutter wartet bereits auf meinen Anruf: „Lass mich wissen, wenn Du durch bist“. Mikail wartet, wie auch mein Bruder. Es ist völlig egal, welche Uhrzeit es ist, sie schlafen auch mitten in der Nacht nicht und warten, ob ich die Ausweiskontrolle hinter mir habe. Aber genug davon… Wenn man im Ausland lebt, ist jeder Schritt, angefangen vom Kauf einer Monatskarte bis hin zur Anmeldung des Wohnsitzes ein Kampf.
Ercan Aktaş: Es ist so, als ob wir alle außerhalb der Grenzen im Gefängnis leben.

Zeynep Koçak:
Mir fällt gerade das Buch des Schriftstellers Chinua Achebe ein: Alles Zerfällt. Die Hauptfigur Okonkwo lebt im Exil. Die Jugendlichen durchlaufen gerade eine Zeit, in der sie erwachsen werden, aber außerhalb ihrer Sippe, mitten in der Wüste. Tatsächlich ist die Wüste ein riesiges Gefängnis. So sind wir auch in eine emotionale Wüste geworfen worden. Wir befinden uns im Exil, im Gefängnis.
Ercan Aktaş: Ja. Leider ist das so. Mehmet Uzun (zeitgenössischer kurdischer Schriftsteller aus der Türkei) schreibt: „Exil bedeutet Trennung, Traurigkeit. Es ist eine ungeheuerliche menschliche Enteignung.“ So fühle ich mich bis in die Spitzen meiner Finger.

Zeynep Koçak: Und was machen wir damit?
Ercan Aktaş: Es gibt nichts weiter was wir tun können als Solidaritätsnetzwerke zu weben, auch wenn sie klein und löchrig sind. Diesbezüglich kann es sein, dass EBCO (European Bureau for Conscientious Objection) und WRI (War Resisters‘ International) Initiativen für Deserteure und Verweigerer aus der Türkei starten.

Zeynep Koçak: Weißt du von solchen Initiativen?
Ercan Aktaş: Um die Wahrheit zu sagen. In den letzten beiden Jahren habe ich keine der Organisationen an unserer Seite gesehen. In Europa hat sich eine wichtige Diaspora aus Menschen aus der Türkei und Kurdistan entwickelt. Zu Beginn gab es in Berlin eine gemeinsame Initative, Nein zu Krieg und Diktatur. Ich weiß, dass es eine Solidaritätsgruppe von Menschen an den Universitäten war, die sich im Exil befinden. Wir sollten sie wieder aktivieren. Ich folge ihrer Entwicklung. Ich folge auch der Arbeit der HDK-A (Demokratischer Volkskongress – Europa) und versuche mich von hier zu beteiligen.

Zeynep Koçak ist Doktorantin für Jura und arbeitet zu Themen wie Staatstheorie, zwischenstaatliche Beziehungen und Gewalt und Masse und Macht.












Zeynep Koçak: Ercan Aktaş - OHAL ve Bir Vicdani Retçinin Hikâyesi. 30. September 2017. Übersetzung aus dem Englischen: rf. Originalbeitrag unter https://kopuntu.org. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2017.

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