Einleitung zur Broschüre "Kriegsdienstverweigerung und Asyl"
(01.07.2014) Etwa 300.000 Soldaten sind in den 1990er Jahren allein im ehemaligen Jugoslawien desertiert. Zehntausende von ihnen kamen nach Deutschland. Im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan Anfang der 1990er Jahre sind in Teilen von Armenien über 90% der Rekruten der Einberufung zum Militär nicht gefolgt. Tausende US-Soldaten und –Soldatinnen entziehen sich jährlich dem Militär. Sie gelten, solange sie sich nicht dauerhaft dem Dienst entziehen als „unerlaubt abwesend“. Tausende Eritreer und Eritreerinnen verlassen jedes Jahr das Land, um der Rekrutierung zum Militär zu entgehen. Viele dieser Deserteure und Deserteurinnen suchen Schutz und Asyl, um der Verfolgung im Herkunftsland zu entkommen. Nur wenige von ihnen schaffen es nach Deutschland. Die Flucht durch mehrere Länder, ihre Probleme die Grenzsicherungen einer Festung Europa zu überwinden und eine Asylpolitik, die möglichst keinen Schutz für Flüchtlinge gewähren will, führt zum Tod Tausender. Wer dennoch die Grenzen überwindet, hofft hier auf Schutz, muss sich aber mit hohen Hürden für eine Anerkennung auseinandersetzen.1
Seit nun über 20 Jahren setzt sich Connection e.V. nicht nur für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung ein, sondern auch dafür, dass Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus Kriegsgebieten Asyl erhalten. Das lehnen deutsche Behörden und Gerichte in aller Regel ab, weil sie allen Staaten das Recht zubilligen, die Wehrpflicht durchzusetzen, auch wenn es in dem Herkunftsland kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt oder wenn den VerweigerInnen ein Einsatz im Krieg droht. „Für die traditionelle (...) asylrechtliche Rechtsprechung“, so Reinhard Marx in seinem Beitrag in dieser Broschüre, „stellte die zwangsweise Heranziehung zum Wehrdienst und die damit verknüpfte Sanktion wegen Kriegsdienstverweigerung und Desertion, selbst wenn sie von weltanschaulich totalitären Staaten ausgingen, (...) nicht schon für sich allein eine Verfolgung dar.“ Das führt dazu, dass immer wieder Verweigerer und Verweigerinnen abgeschoben und somit dem Militär in anderen Ländern ausgeliefert werden. Allerdings ist festzustellen: Die Rechtsprechung ist im Fluss. Selbst wenn es im Grundsatz keine Änderung gibt, und die Verfolgung von KriegsdienstverweigerInnen in der Regel nach wie vor nicht als Asylgrund gilt, so eröffneten sich in den letzten Jahren doch neue Möglichkeiten, Flüchtlingsschutz, subsidiären Schutz oder zumindest einen Abschiebeschutz zu erhalten.
Die Rechtslage dabei ist äußerst unübersichtlich. Wir wollen daher in diesem Artikel einen kurzen Überblick zu Möglichkeiten und Hinweise auf Entscheidungen zu einigen Schwerpunktländern geben. Darüber hinaus finden sich in der Broschüre ausführliche Hintergrundbeiträge und Dokumente zu Kriegsdienstverweigerung und Asyl.
Ein emanzipativer Schritt wird geächtet
In dieser Broschüre setzen sich viele Beiträge mit der juristischen Auslegung internationaler Abkommen und Gerichtsentscheidungen auseinander. Für uns steht jedoch erst einmal die Person im Vordergrund, die Frauen und Männer, die aus einer häufig ganz konkreten Situation heraus Nein sagen und sich dem Kriegsdienst entziehen, verweigern oder desertieren. Solch eine Entscheidung ist mutig, gerade angesichts drohender strafrechtlicher Konsequenzen und der meist damit einhergehenden Ächtung als Verräter. Die Kriegsdienstverweigerung oder auch Desertion hat aber eine weitere Bedeutung. Kriegsdienstverweigerer und Deserteure geben in den Gesellschaften, die an einem Krieg beteiligt sind, ein Beispiel für Handlungsmöglichkeiten außerhalb der Kriegslogik, die nur Verbündete und Feinde, nur die militärische Auseinandersetzung, den Kampf sieht. Sie zeigen auf, dass es zwar einen Zwang gibt, zum Militär zu gehen und dort zu bleiben, ihre Entscheidung sich aber nicht diesem Zwang unterordnet. Das Befehls- und Gehorsamsprinzip, ohne das das Militär mit seinen hierarchischen Strukturen nicht funktionieren würde, wird in Frage gestellt. Es ist ein Schritt der Emanzipation, bis hin zur Idee, den Krieg zu beenden. Auch wenn es nur wenige Fälle gab, bei denen allein die Zahl der Deserteure und Kriegsdienstverweigerer zumindest eine Ursache dafür war, den Krieg wirklich zu beenden, so wirkt ihr Beispiel doch in die Gesellschaft hinein.
Darüber hinaus ist ein solcher Schritt für viele auch die einzig mögliche Alternative, sich nicht an den Verbrechen eines Krieges zu beteiligen. Die Motive sind vielfältig und entsprechen nur selten denen, die hier in Deutschland als Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen verstanden werden, also einer generellen Ablehnung jeden Kriegseinsatzes. Die Motive von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern beziehen sich viel stärker auf die konkrete Situation, den jeweils stattfindenden Krieg, wie Jens Warburg in seinem Beitrag ausführt. Sie achten dabei nicht auf internationale Konventionen, sondern nur auf ihr eigenes Gewissen.
Beispiel Türkei
Die Türkei erkennt nach wie vor die Kriegsdienstverweigerung nicht an. Kriegsdienstverweigerer unterliegen einem Teufelskreis aus Einberufung, Verweigerung und strafrechtlicher Verfolgung, der ein Leben lang andauern kann, da in der Türkei die Wehrpflicht erst dann als erfüllt angesehen wird, wenn der Militärdienst abgeleistet wurde.2 Dies hat sich auch nicht durch Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte geändert, die in der Verfolgung von türkischen Kriegsdienstverweigerern eine Verletzung der Artikel 3 (Verbot der Folter und unmenschlicher Behandlung) und Artikel 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sehen. Die Urteile dokumentieren wir in Auszügen in dieser Broschüre.
In einem Asylverfahren in Deutschland wird zunächst geprüft, ob eine Verfolgung auf Grundlage des Artikels 16a Grundgesetz und der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) vorliegt. Wie oben beschrieben, wird darüber ein grundsätzlicher Schutz für Kriegsdienstverweigerer praktisch ausgeschlossen. Das änderte sich auch nicht durch die Definitionen der Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union3 in Bezug auf die GFK. Artikel 9 der Richtlinie schließt einen grundsätzlichen Schutz für Kriegsdienstverweigerer nach der GFK faktisch aus und bezieht einen möglichen Schutzstatus allein auf die Verweigerung völkerrechtswidriger Handlungen oder völkerrechtswidriger Kriege, wie Reinhard Marx in seinem Beitrag ausführt. Das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Ausfluss des Artikels 9 der EMRK versteht, wird hierdurch nach wie vor nicht erfasst.
In einem zweiten Schritt wird der subsidiäre Schutz geprüft. Hiermit sollen auch Verstöße gegen Artikel 3 der EMRK erfasst werden, d.h. drohende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung sowie Folter. Für Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei ist hier auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 24. Januar 2006 hinzuweisen. Darin führt das Gericht aus: „Die zahlreichen Anklagen gegen den Antragsteller, die sich daraus ergebenden summierenden Effekte der Verurteilungen und der ständige Wechsel von Anklagen und Zeiten der Inhaftierung in Verbindung mit der Möglichkeit, dass er einer lebenslangen Strafverfolgung unterliegen könnte, stehen im Missverhältnis zu dem Ziel, die Ableistung seines Militärdienstes sicherzustellen. Sie sind eher einem Vorgehen zuzurechnen, das die intellektuelle Persönlichkeit des Antragstellers unterdrücken soll, um Gefühle von Angst, Schmerzen und Verwundbarkeit in ihm auszulösen, um ihn so zu demütigen und zu entwürdigen und um seinen Widerstand und Willen zu brechen. Das Leben im Geheimen, das mit einem ‚zivilen Tod‘ zu vergleichen ist, das der Antragsteller gezwungenermaßen aufnehmen musste, stand nicht in Übereinstimmung mit den Strafregelungen einer demokratischen Gesellschaft.“4
In Asylverfahren schlug sich diese Einschätzung in den nachfolgenden Jahren in einigen Fällen nieder. So sah das Verwaltungsgericht Dresden in einem Urteil in der türkischen Verfolgungspraxis von Kriegsdienstverweigerern ein Abschiebungshindernis: „Der Kläger hat Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 5 AufenthG, weil er als Kriegsdienstverweigerer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre.“5 Es stellt sich in diesen Fällen jedoch die Frage, ob eine Verfolgung nach Art. 3 EMRK nicht der Definition des § 60 Abs. 2 AufenthG entsprechen würde und damit ein subsidiärer Schutz ausgesprochen werden müsste, entsprechend Artikel 4 AsylVerfG.
Zusätzlich wird in einem Asylantrag vom Bundesamt für Migration geprüft, ob Abschiebehindernisse vorliegen. Das Bundesamt für Migration verneint dies oft genug. Für Kriegsdienstverweigerer gibt es aber wichtige Anhaltspunkte für einen Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Dort wird ausgeführt: „Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.“ Das Gesetz verweist damit auf die Europäische Menschenrechtskonvention.
Wenn also ein Land die Menschenrechtskonvention ratifiziert hat, dem Asylantragsteller aber bei einer Abschiebung in das Herkunftsland trotzdem eine Menschenrechtsverletzung droht, soll ein Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz ausgesprochen werden.
Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei können sich somit in einem Asylverfahren auf die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte berufen, der in der Strafverfolgung von Kriegsdienstverweigerern eine Verletzung des Artikels 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention festgestellt hat. Eine Ausnahme könnte nach Artikel 15 der Konvention nur bestehen, wenn es sich um Kriegs- oder Notfälle handelt. Da deutsche Behörden sich auch nicht an menschenrechtswidrigen Handlungen beteiligen dürfen, kann dies übrigens auch bei Ländern zutreffen, die die Europäische Menschenrechtskonvention nicht ratifiziert oder anerkannt haben.
Reinhard Marx weist in seinem Beitrag jedoch darauf hin, dass es zu dieser Frage bislang keine gesicherte Rechtsprechung gibt. Auch ist davon auszugehen, dass die Behörden im Asylverfahren in jedem Einzelfall prüfen werden, ob solch eine Verfolgung wahrscheinlich ist. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass das Bundesamt für Migration und mit einem Asylantrag befasste Gerichte prüfen werden, ob eine glaubwürdige Kriegsdienstverweigerung vorliegt entsprechend der Definition des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Hier wird es also darauf ankommen, dass der Kriegsdienstverweigerer ausführlich seine Motivation und Überzeugung darlegen kann, warum er den Dienst in der Armee ablehnt.
Beispiel Eritrea
Seit mehr als 15 Jahren, dem Beginn des zweijährigen Krieges gegen Äthiopien 1998, ist die Situation für DeserteurInnen und KriegsdienstverweigerInnen in Eritrea dramatisch. Alle, Männer wie Frauen, unterliegen der Wehrpflicht. Schüler und Schülerinnen werden bereits im letzten Jahr ihrer Schulausbildung ein Militärlager überstellt, um offiziell dort die Schule zu beenden, tatsächlich aber militärisch gedrillt zu werden. Einige Zeugen Jehovas, die den Kriegsdienst verweigert haben, sind seit fast zwei Jahrzehnten in Haft. Willkürliche und unbefristete Haft unter menschenverachtenden Bedingungen und Folter von DeserteurInnen sind an der Tagesordnung. Wehrpflichtige haben praktisch unbefristet Militärdienst zu leisten.6
Aufgrund dieser Verhältnisse fliehen jedes Jahr Tausende aus dem Land. Einige Hundert schaffen den Weg nach Deutschland und beantragen hier Asyl. Wird ihr Asylantrag tatsächlich behandelt, haben sie aufgrund der Lage im Herkunftsland gute Chancen, einen Flüchtlingsschutz zu erhalten. Die Verfolgung von Militärdienstentziehung oder Desertion wird von deutschen Behörden und Gerichten zwar nicht per se als Verfolgungsgrund anerkannt, aber die Tatsache, dass diese Handlungen vom eritreischen Regime als politische Gegnerschaft angesehen werden und besonders schwere Strafen zu erwarten sind, führen doch zu einer asylrechtlichen Anerkennung.
So erkannte das Verwaltungsgericht Gießen eine eritreische Militärdienstentzieherin im Januar 2014 als Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylVfG an: „Die unerlaubte Ausreise und die Flucht der Klägerin vom Militärdienst würden von Seiten der eritreischen Regierung zum einen als Landesverrat und zum anderen als eine regimefeindliche Einstellung gesehen.“7 In einer früheren Entscheidung hatte das Verwaltungsgericht Frankfurt im Falle eines eritreischen Deserteurs ausgeführt: „Der Kläger hat sofort im Anschluss an seine Zurückschiebung nach Eritrea nicht nur mit einer Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung von dem überdies in der Regel zeitlich unbefristeten Nationaldienst zu gewärtigen. Vielmehr muss er auch mit verfolgungsrelevanten Maßnahmen des eritreischen Staates rechnen, die an die Tatsache anknüpfen, dass der Kläger mit dem Verlassen des Landes zugleich eine Wehrdienstentziehung begangen hat. Letztere wird in Eritrea, das nach wie vor vom ‚Primat des Militärs‘ beherrscht wird, nicht nur als Wehrdienstdelikt angesehen, sondern als Ablehnung des eritreischen Staatswesens überhaupt. Die strafrechtliche Ahndung erhält so auch einen politischen Sanktionscharakter. Ein Recht auf Wehrdienstverweigerung gibt es nicht; wer sich dem Wehrdienst entzieht, muss mit schweren Strafen und schwersten Misshandlungen rechnen. Dass der Kläger aus dem Wehrdienst geflohen ist und sich seitdem im Ausland aufgehalten hat, wird in Eritrea als Wehrdienstentziehung und Regimegegnerschaft angesehen und besonders hart geahndet werden.“8
Beispiel USA: André Shepherd
Der US-Deserteur André Shepherd ging 2004 zur US-Armee und war im Anschluss an seine Ausbildung sechs Monate als Mechaniker für den Apache-Hubschrauber im Irak eingesetzt. Nach seiner Rückkehr aus dem Irak kehrte er zu seiner Einheit nach Deutschland zurück und setzte sich intensiv damit auseinander, wie das US-Militär im Irak gegen die Zivilbevölkerung vorgeht. Bevor er 2007 erneut im Irak eingesetzt werden soll, verließ er die Einheit und beantragte Ende 2008 schließlich in Deutschland Asyl.
Da er sich nicht als ein Kriegsdienstverweigerer ansieht, der jeden Kriegseinsatz ablehnt, er vielmehr insbesondere die Kriege im Irak und Afghanistan und die dortige Kriegführung des US-Militärs verweigert und somit ein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung auch aussichtslos gewesen wäre, bezieht er sich im noch laufenden Asylverfahren auf die 2004 in Kraft getretene Qualifikationsrichtline der Europäischen Union9. Mit ihr sollen jene geschützt werden, die sich einem völkerrechtswidrigen Krieg oder völkerrechtswidrigen Handlungen entziehen und mit Verfolgung rechnen müssen.
Das Bundesamt für Migration lehnte seinen Asylantrag im März 2011 ab. Das daraufhin von ihm angerufene Verwaltungsgericht München vertagte kurzfristig die für Januar 2013 angesetzte Verhandlung und bat den Europäischen Gerichtshof um Prüfung, „ab welchem Grad der Verstrickung in militärische Auseinandersetzungen das Flüchtlingsrecht einem Angehörigen der Streitkräfte eine Desertion zugesteht, wegen der er bestraft wird.“ Der Europäische Gerichtshof wird im Juni 2014 eine Anhörung zu diesem Verfahren durchführen. Nach einer für 2015 zu erwartenden Entscheidung wird das Verwaltungsgericht München auf Grundlage des höchstrichterlichen Beschlusses das Asylverfahren von André Shepherd weiter verhandeln.
Der Fall von André Shepherd ist insofern bedeutsam, weil hier zum ersten Mal über einen Asylantrag entschieden wird, der sich explizit auf die Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union beruft. Der Fall ist zudem ein Politikum, da der Antragsteller US-Bürger ist und in einem Krieg eingesetzt worden ist, der von der damaligen rot-grünen Bundesregierung abgelehnt wurde.10
Das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof sieht vor, dass alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und die Europäische Kommission zu den Vorlagefragen des Verwaltungsgerichtes München Stellung beziehen. Auffällig an den Stellungnahmen ist, dass sie ausführlich darlegen, unter welchen Umständen ein Asylsuchender keinen Schutz erhalten soll. Die europäischen Regierungen, deren Stellungnahmen vorliegen, nennen eine ganze Reihe von Ausschlussgründen, die letztlich dazu führen, dass nur ein Bruchteil der Soldaten oder Soldatinnen, die sich aus Gewissensgründen gegen die Beteiligung an verbrecherischen Kriegshandlungen entscheiden, einen Flüchtlingsschutz erhalten könnten. Hier ein paar Beispiele dafür:
„Die Anwendbarkeit hängt davon ab, ob es um die Beteiligung an Handlungen geht, welche die Voraussetzungen des Art 12 Abs. 2 Buchst. a) der Richtlinie erfüllen (Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke). (...) Ein Gebot der Berücksichtigung von subjektiven Gewissenskonflikten würde bedeuten, dass diese auch bei völkerrechtskonformen Einsätzen zu beachten wären. Dies ginge indes erheblich über die Ziele der Richtlinie hinaus.“11
„Die Angst des Einzelnen, wegen seiner Weigerung, den Militärdienst zu leisten oder seinen militärischen Pflichten nachzukommen, strafrechtlich verfolgt zu werden, stellt an sich keine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne der Flüchtlingsdefinition dar.“12
„Ob der Beitrag einer Person zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit wesentlich ist oder nicht, hängt von einer Reihe von Faktoren ab, wie z.B. der Größenordnung der Operation, den vom Betreffenden ausgeübten Tätigkeiten, seiner Stellung in den Streitkräften, der Art der von ihm auszuführenden Aufträge, der Frage, ob er eine Wahlmöglichkeit hatte (...). Unserer Auffassung nach ist eine persönliche Verantwortlichkeit des Klägers nicht begründet, da keine mittelbare, wesentliche und wissentliche Mitwirkung seinerseits an Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegt, sollten solche begangen worden sein.“13
„Das Vorbringen des Kläger zu seiner Befürchtung, in völkerrechtswidrige Handlungen verstrickt zu werden, ist ausreichend und jenseits vernünftigen Zweifels zu belegen, damit er Schutz genießen kann.“14
„Im vorliegenden Fall müssen die Gewissenskonflikte des Klägers jedoch die Begehung von Verbrechen betreffen, die unter die Ausschlussklauseln (Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie) fallen. Nur unter diesen strengen Voraussetzungen kann ein Deserteur den Schutz der Richtlinie suchen. Es setzt voraus, dass der Asylsuchende belegt, dass er Gefahr lief, persönlich an solchen Verbrechen beteiligt zu werden, sollte sich herausstellen, dass diese Verbrechen begangen wurden.“15
„Damit das Unterstützungspersonal vom Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 2 erfasst wird, muss dargelegt werden, dass eine Wahrscheinlichkeit/Erwartung vorliegt, dass es in der Zukunft verpflichtet sein würde, zur Begehung eines Verbrechens/einer Handlung im Sinne von Art. 12 Abs. 2 in erheblicher und identifizierbarer Weise beizutragen. Bei dem Aufgabenbereich des Unterstützungspersonals (Fahrer, Köche, Mechaniker) ist es in der Praxis äußerst unwahrscheinlich, dass dieser Aspekt erfüllt sein wird.“16
„Nach den Kriterien zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Tätern, wie sie in Artikel 33 des Römischen Statuts festgehalten sind, ist ein Täter nur dann von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit enthoben, wenn er gesetzlich verpflichtet war, den Anordnungen der betreffenden Regierung oder des betreffenden Vorgesetzten Folge zu leisten, der nicht wusste, dass die Anordnung rechtswidrig ist, und die Anordnung nicht offensichtlich rechtswidrig war. Zwar sind die Bestimmungen des Römischen Statuts im vorliegenden Fall nicht anwendbar, sie können hier aber durchaus als Orientierung dienen.“17
Ganz unabhängig davon, dass auch die verschiedenen Stellungnahmen unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten und Definitionen eröffnen: Wie soll denn ein Soldat, der sich in einer konkreten Situation im Militärdienst befindet – oder diese Situation im Einsatz zu erwarten hat – die zu erwartende Begriffsbestimmung, die zu erwartenden Ausschlussgründe in Erwägung ziehen.
Wir müssen hier deutlich unterscheiden. Bei der Strafverfolgung völkerrechtswidriger Handlungen durch den Internationalen Strafgerichtshof muss dieser die persönliche Verantwortung nachweisen. Ein Soldat hingegen, der in Erwartung, dass er sich bei einem zukünftigen Einsatz an völkerrechtswidrigen Handlungen beteiligen müsste und deshalb die Armee verlässt und Asyl sucht, darf nicht dazu verpflichtet werden, konkrete Beweise vorzulegen. Eine Glaubhaftmachung muss völlig ausreichen.
Für André Shepherd war klar, dass er als leitender Mechaniker für die Flug- und Kampffähigkeit der Apache-Hubschrauber verantwortlich war und er erfuhr über die Medien, wie Apache-Hubschrauber beispielsweise in Falludscha gegen die Bevölkerung eingesetzt wurden. Vor einer Entscheidung konnte er nicht klären, ob genau der Hubschrauber, den er wartete, zu einem solchen Einsatz geschickt wird. Obendrein unterlag der konkrete Einsatz auch nicht seiner Verantwortung, wohl aber die Kampffähigkeit der eingesetzten Hubschrauber. Seine Gewissensentscheidung war hier eindeutig: Er wollte nicht mehr in die Lage gekommen, aufgrund eines Befehls daran beteiligt zu sein. Und dafür blieb ihm nur die Flucht aus dem Militär. Eine Befehlsverweigerung wäre unweigerlich strafrechtlich verfolgt worden.
Auch eine Einschränkung nur auf diejenigen Soldaten, die unmittelbar in das Kampfgeschehen eingebunden sind, darf nicht erfolgen. Damit würde, so Reinhard Marx in seinem Beitrag, „einerseits die Gewissensnot derjenigen, die durch militärische Anweisungen zu Handlungen verpflichtet werden, die einen Beitrag zu Kriegsverbrechen leisten können, außer Acht“ gelassen. „Andererseits würden völkerrechtliche Normen, die den Schutz vor Kriegsverbrechen zum Gegenstand haben, in ihrer Wirkung und Anerkennung geschwächt.“
Der Zeitpunkt und die Situation, zu denen sich ein Soldat oder eine Soldatin der eigenen persönlichen Verantwortung stellt und desertiert und die juristische Aufarbeitung in einem Asylverfahren fallen auseinander. Ein Soldat muss diese Entscheidung im Militär treffen, dem er als Befehlsempfänger unterstellt ist und er muss diese Entscheidung zu einem Zeitpunkt treffen, in dem er noch nicht sicher weiß, wie sich der Einsatz entwickeln wird. Ein Soldat macht seine Entscheidung von der eigenen Erfahrung und Erwartung über die Kriegführung abhängig, auf der Grundlage seiner eigenen Normen und Werte. Der spätere juristische Diskurs bezieht sich hingegen auf einen nachträglichen Wissensstand und befasst sich mit abstrakten Regelungen, die in zwischenstaatlichen Abkommen und Richtlinien entwickelt wurden. Sie sollten vor allem dazu dienen, staatliches Handeln zu sanktionieren, werden hier aber scheinbar auf die konkrete Situation eines Flüchtlings umgebrochen.
Die Folge ist, dass die von den Staaten eingereichten Stellungnahmen im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof vor allem das jeweilige staatliche Handeln legitimieren und damit das Flüchtlingsrecht faktisch eingeschränkt werden soll. Aus der staatlichen Sicht spricht gegen die Schutzgewährung eines Deserteurs immer auch die Legitimierung des eigenen militärischen Handelns. Sich dem Dienst zu entziehen oder auch zu desertieren, stellt die Funktionsfähigkeit des Militärs in Frage. Kein Staat will dies akzeptieren. Wir können gespannt sein, wie der Europäische Gerichtshof letztlich entscheidet.
Fazit
Es wäre ein bedeutsames friedenspolitisches Signal, wenn klar definiert ist: Alle, die sich dem Einsatz im Krieg verweigern, erhalten Schutz und Asyl. Wir sind noch weit davon entfernt, dass dies Wirklichkeit wird. Aber jeder einzelne Fall, in dem es uns gelingt, einen Kriegsdienstverweigerer oder eine Deserteurin vor der Abschiebung zu schützen, ist ein Erfolg. Und in der Tat können wir dies oft erreichen, wenn wir politischen Druck von unten aufbauen, die bisher bestehenden rechtlichen Möglichkeiten nutzen und die Betroffenen ausreichende Unterstützung erhalten. Ein Beitrag dafür soll diese Broschüre leisten.
Fußnoten
1 Bevor überhaupt ein Asylverfahren in Deutschland durchgeführt wird, wird vom Bundesamt für Migration nach der Verordnung Dublin III (Verordnung (EU 604/2013) geprüft, ob aufgrund des Fluchtweges ein anderes Land für die Asylantragstellung zuständig ist. Die Verordnungen regeln die Zuständigkeit für Asylverfahren zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten. Asylanträge von Asylsuchenden, die über Italien, Ungarn, Polen etc. in die EU eingereist sind, finden dadurch in Deutschland keine Beachtung. Ohne Anhörung ihrer Fluchtgründe sind die Asylsuchenden von Abschiebung bedroht.
2 Zu Ausnahmeregelungen, Freikauf usw. siehe www.Connection-eV.org/article-1609
3 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz.
4 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Pressemitteilung vom 24.01.2006 zur Entscheidung Ülke v. Turkey, application no. 39437/98. (mehr...)
5 Urteil des VG Dresden vom 5. Mai 2008, AZ A 4 K 36065/05 (...mehr)
6 Ausführlich dazu: Connection e.V. und Pro Asyl (Hrsg.): Eritrea – Desertion, Flucht & Asyl, Offenbach und Frankfurt, September 2010 (...mehr)
7 Verwaltungsgericht Gießen: Urteil vom 9. Januar 2014. AZ 6 K 652/13.GI.A.
8 Verwaltungsgericht Frankfurt: Urteil vom 12. August 2013. AZ 8 K 2202/13.F.A (...mehr)
9 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011, aaO.
10 Gleichwohl leistete Deutschland zahlreiche Unterstützungsleistungen wie Gewährung von Überflugrechten für US-Flugzeuge, deutsche Soldaten wurden zur Bewachung der US-Kasernen abgestellt. Die Bundeswehr stellte der Türkei Patriot-Abwehrraketen zur Verfügung, in Kuwait stationierte sie eine Einheit mit ABC-Schutzpanzern. Vgl. Berliner Zeitung vom 2. Februar 2006
11 Regierung der Bundesrepublik Deutschland: Stellungnahme in der Rechtssache C-472/13 vom 11. Dezember 2013
12 Hellenische Republik: Erklärung zur Vorabentscheidungssache C-472/13 vom 16. Dezember 2013
13 dito
14 dito
15 dito
16 Schriftliche Erklärung des Vereinigten Königreichs vom 17. Dezember 2013
17 Europäische Kommission: Schriftsatz in der Rechtssache C-472/13 vom 10. Dezember 2013
Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und Pro Asyl (Hrsg.): Broschüre "Kriegsdienstverweigerung und Asyl", Juli 2014
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