Israel: Eine massenhafte Verweigerung des Militärdienstes könnte ein transformativer Moment werden
(05.03.2023) Der zivile Widerstand gegen die Regierung hat das israelische Militär in eine beispiellose Krise gestürzt und bietet denen eine Chance, die gegen die Apartheid kämpfen.
Während der Zweiten Intifada, als die israelische Armee versuchte, den Aufstand zu unterdrücken und Tausende von Palästinenser*innen tötete, war ich Teil einer Bewegung israelischer Jugendlicher und Soldat*innen, die den Dienst in der Armee verweigerten. Im Alter zwischen 18 und 20 verbrachte ich zusammen mit vielen anderen 21 Monate in einer Gefängniszelle, um gegen die Besatzung und ihre brutale Politik zu protestieren. Es war eine der größten Kriegsdienstverweigerungskampagnen, die es in Israel je gegeben hat - und bis vor kurzem schien es sehr unwahrscheinlich, dass es noch einmal solch ein Ausmaß an Verweigerung geben könnte.
In den letzten zwei Wochen ist jedoch zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten in Israel eine neue Bewegung entstanden, die sich mit der Verweigerung des Militärdienstes gegen die rechtsextreme Regierung unter Benjamin Netanjahu stellt. Eine Reihe von antidemokratischen Gesetzentwürfen werden von ihr vorangetrieben, was von Gegner*innen als "Justizputsch" bezeichnet wird. Es wird die Gerichte des Landes erheblich schwächen und der Regierungskoalition nahezu unbegrenzte Macht verleihen. Damit würden die Rechte von Frauen, LGBTQ-Personen, säkularen Menschen und anderen Minderheiten eingeschränkt werden. Aber es würde vor allem die Palästinenser*innen auf beiden Seiten der Grünen Linie treffen. Sie wären am Stärksten von den Gesetzen betroffen.
Angesichts dieser Gefahr haben Tausende von israelischen Soldat*innen und Reservist*innen öffentliche Erklärungen abgegeben, mit denen sie ankündigten, den Dienst in der Armee zu verweigern, sollte das Gesetz der Regierung verabschiedet werden. Eine dieser Erklärungen enthielt mehr als 250 Unterschriften von Reservesoldaten, die alle der Sondereinheit der Armee angehören. Darin heißt es, dass das Gesetz darauf abziele, "die Justiz zu einer politischen und nicht unabhängigen Instanz zu machen, mit anderen Worten: ein Ende der israelischen Demokratie". Eine zweite, ähnliche Erklärung erhielt mehr als 500 Unterschriften von Reservesoldaten, die alle der "Einheit 8200" angehören, einer Geheimdiensteinheit, die oft mit der Nationalen Sicherheitsbehörde (NSA) der USA verglichen wird.
Medienberichten zufolge steht inzwischen fast jede Einheit der israelischen Armee - einschließlich der Sayeret Matkal-Kommandos1 und anderer Elitetruppen - vor einer Revolte von innen. Interne Chatgruppen der Armee werden Berichten zufolge von Soldaten überschwemmt, die erklären, dass sie den Dienst entweder verweigern oder verweigern werden, wenn der Justizputsch gelingt. Presseberichten zufolge ist die Luftwaffe - eine der angesehensten Divisionen der israelischen Armee - besonders besorgt über die Unzufriedenheit gegenüber der Militärführung.
In einer Nachricht in einer internen WhatsApp-Gruppe der Luftwaffe, die in der Tageszeitung Ha‘aretz zitiert wird, kündigte ein Pilot beispielsweise an, dass er statt einen Tag in der Woche als Reservesoldat zu dienen, diesen Tag nun nutzen werde, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Ein anderer neuer Verweigerer sagte, dass die Fähigkeit der Armee, Sicherheitsbedrohungen zu bekämpfen, "ohne Zweifel beschädigt wird", wenn das Gesetz angenommen werde. Er betonte, dass "es ganze Einheiten gibt, besonders im Geheimdienstbereich, aber auch im Technologiebereich, die das ganze Jahr über vom Reservedienst abhängig sind“. Am Sonntag erklärten fast alle Reservepiloten des Geschwaders 69, einer der elitärsten Staffeln der Luftwaffe, ihren Kommandeuren, dass auch sie den Dienst verweigern würden, sollten die Pläne zur Justiz umgesetzt werden.
Wachsende Erfolgsaussichten
Or Heler, ein Militärkorrespondent des Nachrichtensenders Channel 13, der die aktuellen Entwicklungen aufmerksam verfolgt hat, warnte, dass diese historische Revolte die israelische Armee in eine "noch nie dagewesene Krise" stürzen könnte. Er hat Recht. Und für die Bewegung, die für die Beendigung der israelischen Herrschaft über das palästinensische Volk kämpft, stellt diese Krise eine noch nie dagewesene Chance dar.
Fast alle jüdischen Israelis werden im Alter von 18 Jahren zur Armee im Rahmen der Wehrpflicht einberufen. Männer dienen in der Regel 32 Monate, Frauen 24 Monate lang. Bemerkenswert ist jedoch, dass fast alle Israelis, die an der aktuellen Verweigerungswelle teilnehmen, Reservesoldaten sind - ältere Israelis, die entweder einen Monat pro Jahr oder einen Tag pro Woche über viele Jahre hinweg in der Armee dienen, normalerweise bis zum Alter von 40 Jahren.
Diese Reservesoldaten werden zur regulären Ausbildung einberufen und in Kriegszeiten in großer Zahl rekrutiert. Aber auch im Alltag ist die Armee auf diese Soldat*innen angewiesen, vor allem in Bereichen, die eine längere Ausbildung und technisches Wissen erfordern, wie z. B. beim Nachrichtendienst und bei der Luftwaffe. Ohne sie kann die Armee nicht operieren.
Die neue Verweigerungswelle findet inmitten einer größeren Kampagne von Massendemonstrationen und zivilen Widerstandsaktionen gegen die Regierung in ganz Israel statt. Die Demonstrant*innen haben wichtige Autobahnen und Bahnhöfe in den größten Städten Israels blockiert, während der Parlamentsdebatten über das Gesetz die Knesset umzingelt und versucht, gewaltlos in sie einzudringen, einen landesweiten Generalstreik inszeniert und wöchentliche Märsche organisiert, die jeden Samstag Hunderttausende auf die Straße gebracht haben.
Ebenso wichtig sind die wirtschaftlichen Aktionen, die unter dem Banner dieser Bewegung durchgeführt werden: Israelische Bürger und Unternehmen haben sich öffentlich aus der israelischen Wirtschaft zurückgezogen, indem sie ihre israelische Währung und Aktien zugunsten ausländischer Aktien verkauften. Das hat Wirkung gezeigt: Im Februar stürzte der israelische Schekel um 10 Prozent gegenüber dem Dollar ab, und viele Beobachter*innen warnen vor weiteren wirtschaftlichen Schäden und Kapitalflucht.
Als Forscher auf dem Gebiet des zivilen Widerstands in globalen Kampagnen für Gerechtigkeit - dem Einsatz von Streiks, Boykott, Massenprotesten und anderen gewaltfreien Aktionen, um unterdrückerischen Regimen die Zusammenarbeit zu entziehen - kann ich mit Sicherheit sagen, dass dieses Ausmaß an Beteiligung an zivilen Widerstandskampagnen in der israelischen Geschichte beispiellos ist.
Nach Schätzungen der Medien haben sich 2 bis 4 Prozent der israelischen Bevölkerung (zwischen 200.000 und 400.000 Menschen) an mindestens drei der wichtigsten Protest- und Streiktage im ganzen Land beteiligt. Noch nie zuvor hat eine israelische Bewegung eine so große Beteiligung erreicht und gleichzeitig den zivilen Widerstand als wichtigste Taktik eingesetzt.
Das ist eine wichtige Nachricht, da eine so hohe aktive Beteiligung oft auf höhere Erfolgschancen hindeutet. Kampagnen des zivilen Widerstands können eine transformative Wirkung haben, wie Beispiele aus der jüngeren Geschichte zeigen: der Sturz von Präsident Slobodan Milošević durch serbische Bürgerinnen und Bürger im Jahr 2000; die Revolte, die 2006 zur Wiederherstellung der Demokratie in Nepal führte; der Sturz autoritärer Herrscher in Tunesien und Ägypten im Jahr 2011; die Blockaden der Welthandelsorganisation, des Internationalen Währungsfonds und der G8/G20-Gipfel; und die Aktionen von Bewegungen für Klimagerechtigkeit wie Extinction Rebellion, Just Stop Oil und der Sunrise-Bewegung.
Mit dem Kleinen anfangen
Doch so erfolgreich die Mobilisierung für die Proteste auch waren, einige sind auch besorgt, dass ein grundlegendes Problem übersehen wird. Kritiker*innen weisen zu Recht darauf hin, dass viele der Personen und Gruppen, die die derzeitige Oppositionsbewegung anführen - einschließlich der Kampagnen zur Verweigerung des Militärdienstes -, ihre Botschaften in erster Linie auf die Auswirkungen konzentrieren, die die Pläne der Regierung auf die Juden in Israel und in der Diaspora haben werden, während sie die jahrzehntelange antidemokratische und apartheidartige Politik ignorieren, die von allen früheren Regierungen gegen die Palästinenser*innen betrieben wurde.
Diese Kritik ist wichtig und legitim. Sowohl Strateg*innen als auch Expert*innen für zivile Widerstandsbewegungen betonen jedoch, dass sich erfolgreiche Kampagnen im Laufe der Geschichte häufig auf "kleinere" oder "symbolische" Forderungen konzentrierten, die dazu beitrugen, die Ungerechtigkeit für größere Teile der Bevölkerung sichtbar zu machen. So konzentrierte sich beispielsweise die am weitesten verbreitete Kampagne der indischen Antikolonialbewegung auf den Kampf gegen eine britische Steuer auf die Salzproduktion und nicht gegen die gesamte Kolonialherrschaft. Auch die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung machte landesweit Schlagzeilen durch eine Kampagne, die sich nicht zuerst auf das Wahlrecht, sondern auf die Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln konzentrierte.
Darüber hinaus wird die Teilnahme an dieser Protestbewegung für Hunderttausende von Israelis, ob jung oder alt, wahrscheinlich eine prägende Erfahrung für den Rest ihres Lebens sein. Und wie wir bei früheren Verweigerungswellen in der Armee gesehen haben, kann der Akt des Aufbegehrens gegen das Militär - eine der zentralsten Institutionen der israelischen Gesellschaft und der nationalen Identität - für Israelis oft ein wichtiger Schritt zur Abkehr von den hegemonialen Normen sein, mit denen sie aufgewachsen sind, was schließlich zu einer völligen Umgestaltung ihres Weltbildes führt. Es ist bezeichnend, dass viele der kleinen Gemeinschaften israelischer Aktivist*innen, die heute ihr Leben dem Kampf gegen die Besatzung und die Apartheid widmen, als Kriegsdienstverweiger*innen oder Reservedienstverweigerer in früheren Wellen begonnen haben.
Ja, es ist beunruhigend, dass Millionen israelischer Juden erst jetzt zum ersten Mal erkennen, dass die ultranationalistischen und ultrareligiösen Kräfte des Landes eine existenzielle Bedrohung für die Gesellschaft darstellen, auch für die Millionen Palästinenser*innen, die unter israelischer Herrschaft stehen. Später ist jedoch besser als nie, und diese Welle der Verweigerung und des Protests kann noch einen tiefgreifenden Wandel in der israelischen Gesellschaft bewirken. Auch wenn es wahrscheinlich Jahre dauern wird, bis sie an die Oberfläche dringt und die langfristige Politik beeinflusst, könnte diese Periode der Massenverweigerung und des zivilen Widerstands ebenso transformativ sein wie die israelischen Bewegungen, die während der Zweiten Intifada, des Libanonkriegs 1982 und des Jom-Kippur-Kriegs 1973 entstanden sind.
Angesichts dieser Welle der Verweigerung und des Widerstands haben Menschen auf der ganzen Welt, die sich der israelischen Besatzung und Apartheid widersetzen - einschließlich Tausender Mitglieder des Refuser Solidarity Network, dem ich angehöre - eine doppelte Aufgabe.
Erstens: Während die Israelis von innen heraus mit zivilem Widerstand kämpfen, müssen wir international parallele Taktiken gegen die israelische Regierung anwenden: Streiks, Boykott, Störung, Desinvestition und andere gewaltfreie Aktionen. Wir müssen dieses Gesetz bekämpfen, aber auch sicherstellen, dass die Kampagne genutzt wird, um die Geschichte der größeren Ungerechtigkeit zu erzählen, nämlich die der israelischen Herrschaft über die Palästinenser*innen.
Zweitens sollten wir diese Welle der Verweigerung und des Widerstands öffentlich unterstützen, uns mit ihr solidarisieren und insbesondere diejenigen Verweiger*innen und Demonstrant*innen unterstützen, die ihre Aktionen als Teil eines größeren Kampfes für Gerechtigkeit für die Palästinenser*innen sehen. Der vor uns liegende Weg ist weder sicher noch gewiss, aber zum ersten Mal seit Jahrzehnten kann ich ehrlich sagen, dass ich einen realistischen Weg zur Beendigung der Besatzung in unserer Generation sehe.
Fußnoten
1 Spezialeinheit der israelischen Streitkräfte mit dem Einsatzschwerpunkt Terrorismusbekämpfung und nachrichtendienstliche Aufklärung
Shimri Zameret, Magazin +972: A mass wave of Israeli army refusal could be a transformative moment. 5. März 2023. https://www.972mag.com/israeli-army-refusal-civil-resistance/
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