Eritrea: Politische Verfolgung von Desertion und Verweigerung

von Rudi Friedrich

(07.09.2010) Es war beklemmend. Gemeinsam mit eritreischen Oppositionsgruppen hatten wir Anfang Mai 2008 in Frankfurt/M. eine Kundgebung durchgeführt, um zu verhindern, dass zwei eritreische Deserteure abgeschoben werden. Jedoch wurden sie am 14. Mai 2008 mit einem eigens dafür gecharterten Privatflugzeug nach Eritrea ausgeflogen. Viele hatten davor gewarnt, was bei ihrer Ankunft in Asmara passieren würde: Sie wurden sofort inhaftiert und an einen unbekannten Ort gebracht. Die deutschen Behörden hatten das nicht sehen wollen.

Yonas M. und Petros M. waren im November 2007 mit gefälschten eritreischen Pässen und Transitvisa in den Transitbereich des Frankfurter Flughafens eingereist. Sie versuchten, nach Deutschland einzureisen. Das wurde ihnen verwehrt, da sie kein Schengen-Visum vorweisen konnten. Nachdem sie Asyl beantragten, sahen die deutschen Behörden die Pässe als echt an. Das Bundesamt für Migration lehnte ihre Asylanträge als offensichtlich unbegründet ab und verweigerte ihnen die Einreise nach Deutschland: Da die Angaben von Yonas M. und Petros M. in Widerspruch zu den in den Pässen aufgeführten Daten ständen, seien ihre Ausführungen unglaubwürdig. Zwei Abschiebeversuche im Januar und Februar 2008 scheiterten, da beide Widerstand leisteten und sich die Piloten daher weigerten, sie mitzunehmen. Im Mai konnte ihr Widerstand gebrochen werden, indem ihre Hände mit einem sogenannten Body Cuff an den Oberkörper und ihre Ober- und Unterschenkel mit Kabelbinder gefesselt wurden. So präpariert wurden sie auf einem Stuhl direkt in ein eigens dafür gechartertes Flugzeug gebracht und ausgeflogen.

Nun, mehr als zwei Jahre später, konnten uns Yonas M. und Petros M.  berichten, was danach geschah. Nach ihrer Odyssee durch die eritreischen Haftanstalten müssen wir feststellen: Sie sind knapp dem Tod entkommen. Ihnen gelang erneut die Flucht in den Sudan und nach Äthiopien. Erst dort erfuhren sie, dass ihre Rechtsanwältin die Asylverfahren weiter betrieben hatte – und aufgrund bestätigter Berichte über ihre Inhaftierung erfolgreich war. Im April bzw. im Juni 2010 konnten sie schließlich nach Deutschland einreisen.

Militärstaat Eritrea

Nach der Unabhängigkeit von Äthiopien 1993 hat sich Eritrea zu einem Militärstaat entwickelt. Die aus der Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangene alleinherrschende Staatspartei Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (PFDJ) hat unter dem Präsidenten Isayas Afewerki am Horn von Afrika einen Staat errichtet, der durch und durch militarisiert ist und jede Kritik unterbindet, Kritiker und Abtrünnige und deren Familien verfolgt.

Das Verhältnis des Staates zur Bevölkerung wird zentral durch die Wehrpflicht für Männer und Frauen bestimmt, dem sogenannten Nationaldienst, der pro forma sechs Monate Grundausbildung und zwölf Monate Dienst im Militär oder bei Arbeitsdiensten umfassen soll. Faktisch werden die RekrutInnen selten aus dem Dienst entlassen. „Viele Rekruten sind nicht in der Armee,“ so Human Rights Watch, „sondern arbeiten bei zivilen Entwicklungsprojekten mit oder sind in kommerziellen Unternehmen zu finden und bekommen ihr Gehalt vom Verteidigungsministerium bezahlt. Das Ministerium kontrolliert den Nationalen Dienst und selbst wenn ein Mitarbeiter aus einem zivilen Projekt flüchtet, wird er als Deserteur nach dem Militärstrafgesetz verfolgt. Flüchtlinge, die von Human Rights Watch interviewt wurden, betonten, dass es keinen wirklichen Unterschied zwischen militärischem und zivilem Nationalen Dienst gäbe – Wehrpflichtige sind in gleicher Weise von der Gnade des Staates abhängig. Ein eritreischer Akademiker merkte an, dass ‚viele Menschen nicht verstehen, dass es in Eritrea keinen Militärdienst gibt. Es gibt nur den Hagerawi Agelglot (Nationalen Dienst), der deutlich anspruchsvoller und umfassender ist als der übliche Militärdienst.‘ Die meisten dienstfähigen Erwachsenen der Bevölkerung befinden sich aktiv im unbegrenzten Zwangsdienst oder in der Reserve. Die einzigen Gründe für Ausnahmen sind Untauglichkeit und bei Frauen Schwangerschaft.“1

Auch Yonas M. ist ein Beispiel dafür. Er berichtet: „Ich möchte erwähnen, dass die Militärzeit in Eritrea nur einen Anfang aber kein Ende hat. Einmal beim Militär, immer beim Militär. Ich wurde im Jahr 2000 zwangsweise zum Militär eingezogen. Ich wurde später im Militärlager Sawa bei der 6. Brigade als Wächter eines Gefängnisses eingesetzt, als Feldgendarm. Ich wollte das nicht machen, aber ich war dazu gezwungen. Ich war ungefähr sieben Jahre beim Militär. Es gab kein Ende meiner Militärzeit.“2

Ergänzend dazu wurde das Bildungswesen in das Militär integriert. Seit 2003 findet das 12. Schuljahr nicht an den bestehenden Oberschulen, sondern im Grundausbildungszentrum der Armee in Sawa statt. Die Schüler und Schülerinnen „der Oberschule werden für ihre Ausbildung in militärische Ausbildungszentren zwangseingeschrieben und dort strikt militärisch diszipliniert.“3 „Diese ‚Reform‘ verkörperte klar eine Militarisierung des höheren Bildungswesen, eine Verschärfung der Kontrolle des Staates und des Militärs über die Oberschüler- und Studentenschaft, der die Regierung stark misstraut…“4 Auch die universitäre Bildung ist praktisch völlig abhängig vom Militär.5

Auch Petros M. fand sich als Schüler in Sawa wieder: „Nach meiner 11. Klasse musste ich die 12. Klasse in Sawa absolvieren. Das bedeutet sechs Monate Militär und dann sechs Monate bis zur Prüfung. Wenn sie dich nach Sawa bringen, dann bist du bereits ein Militär geworden. Sie sagen zwar, man sei ein Schüler und mache eine Ausbildung. Aber die Ausbildung besteht aus militärischem Drill und Schule. Und sie machen nur eine militärische Ausbildung. Das Ziel der Regierung ist, dass du der Regierung ein Leben lang dienst.“6

Die Pflicht zur Ableistung des Nationaldienstes gilt heute für Männer bis 54 und Frauen bis 47 Jahre. Frauen werden jedoch meist mit Erreichen des 27. Lebensjahres aus dem aktiven Nationaldienst entlassen. Sie bleiben bis zum Alter von 47 Jahren Teil der Nationalen Reservearmee. Für Männer gibt es kein festgelegtes Kriterium für die Entlassung aus dem aktiven Nationaldienst.7

Ein weiterer Aspekt dieser umfassenden Militarisierung ist, dass praktisch alle Lebenswege in den Militärdienst integriert wurden. Nach der Grundausbildung wird den Dienstleistenden vom Staat ein Dienst im Militär, oder auch ein Arbeitsstelle vom Staat zugewiesen, eine Entlassung aus dem Militärdienst erfolgt jedoch nicht. Dies geht einher mit der staatlichen Übernahme des privaten Sektors, wie Gaim Kibreab in einer Studie schreibt: „Seit April 2006 ist es nur noch parteieigenen Firmen (der PFDJ) erlaubt, aktiv zu sein. Private Firmen sowie Einzelunternehmer wurden aus der Baubranche verbannt. Dies ist Teil der Niederschlagung des privaten Sektors durch die Regierung. Am 3. April 2006 brachte die Regierung einen Erlass heraus, der besagt, dass ‚Bauunternehmer, Sachverständige, praktizierende Facharbeiter sowie Maschinisten‘ beim technischen Büro in der Zentralregion folgendes vorlegen müssen: Originale ihrer Lizenzen, detaillierte Rechnungen,

Adressen, Größe und Art ihrer Projekte, Namen der Besitzer sowie die geschätzten Gesamtkosten. Am Tag danach wurde der Erlass veröffentlicht. Am 7. April ordnete die Regierung an, dass alle ihre Projekte innerhalb von zehn Tagen einzustellen haben. Das Verbot ist immer noch in Kraft. Die Gewinner dieses Befehls sind die der regierenden Partei angehörenden etwa 40 Unternehmen, die jeden Bereich der eritreischen Wirtschaft beherrschen, die Unternehmen der Massenorganisationen der PFDJ und die wie Pilze aus dem Boden geschossenen Baufirmen des Verteidigungsministeriums.“8

Diese Vorgehensweise entspricht nicht nur einem ökonomischen Interesse des eritreischen Regimes, die Wirtschaft zu kontrollieren. Sie hat sich auch aus der Ideologie des Unabhängigkeitskampfes der damals noch unter dem Namen Eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF) im bewaffneten Kampf gegen Äthiopien stehenden Einheiten unter Isayas Afewerki entwickelt. „Schon in ihrer Entstehungsphase assoziierte die EPLF Liberalismus, Individualismus und Intellektualismus (bezeichnet als Dreigestirn der Todsünden) als zentrale Bedrohung ihres Führungsanspruches, die es zu beseitigen galt.“9 Die Rekrutierung der gesamten Bevölkerung, Männer wie Frauen, in den Nationaldienst als „nationale Pflicht“ im Sinne der EPLF/PFDJ erfüllt somit den Zweck, die Jugend umfassend mit der Ideologie der alleinherrschenden Partei zu indoktrinieren. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt dazu weiter aus: „Die Rekrutierung der Neuzugänge basiert auf dem Doppelpfeiler, der sich aus einer politischen Schulung und einem militärischen Grundtraining zusammensetzt. In den Trainingslagern werden die Rekruten militärisch geschult, politisch indoktriniert und ‚umfassend in die Gemeinschaft der tegadelti [KämpferInnen] sozialisiert‘. Im ersten und militärischen Teil dieses Prozesses absolvieren die Rekruten ein rigoroses physisches Training, das nebst der körperlichen Fitness auch oder vor allem der sozialen Indoktrinierung dient. Indoktriniert wird die Ideologie der EPLF auch mittels einer politischen Schulung. Zudem werden die Rekruten von ihrem bisherigen sozialen Umfeld abgekoppelt und isoliert. ‚Im Zuge dieses Umerziehungsprozesses sollten die Rekruten alle bisherigen ethnischen, religiösen und sozialen Bindungen und die aus ihnen resultierenden Handlungsverpflichtungen, aber auch die individuellen Eigeninteressen zugunsten einer vollständigen Unterordnung unter die Bedürfnisse und Anordnungen der EPLF aufgeben.‘ Damit wird – mit der Idee, eine unabhängige Nation Eritrea zu verwirklichen – die Loyalität zur EPLF und Loyalität zur Nation gleichgesetzt.“10

In der Konsequenz bedeutet dies, dass alle, die sich der Verpflichtung zum Nationaldienst entziehen oder desertieren, als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen werden, ihre Desertion per se also eine politische Oppositionshandlung darstellt, die entsprechend scharf verfolgt wird.

Desertion und Flucht

Die umfassenden Zwangsverpflichtungen und Militarisierung des Landes sind wesentliche Ursache dafür, dass es eine große Zahl von Deserteuren und Deserteurinnen gibt. Das drückt sich auch aus in der Zahl derjenigen, die das Land verlassen. Es sind Hunderte pro Monat, die über die Landesgrenze in benachbarte Länder fliehen, wie Sudan oder Äthiopien. Im World Report (2008) berichtet Human Rights Watch, dass in den Jahren 2006 und 2007 wöchentlich rund 120 junge Männer, die von der Einberufung in den Militärdienst flohen, im Sudan ankamen.11 Sudan Tribune berichtete am 22. Juli 2010, dass jeden Monat 1.800 EritreerInnen allein nach Äthiopien fliehen, um der Verfolgung durch die eritreische Regierung zu umgehen. Schätzungsweise 45% der Flüchtlinge seien DeserteurInnen.12

Um Flüchtige aufzugreifen und die Fluchtbewegung ins Ausland zu verhindern, hat die eritreische Regierung verschiedene Maßnahmen ergriffen.

In unregelmäßigen Abständen finden Razzien, sogenannte Giffa, statt. Ganze Stadtviertel werden umstellt. „Jeder im entsprechenden Alter, der ohne Dokumente aufgefunden wird, die nachweisen, dass er von der Ableistung des Nationalen Dienstes befreit ist, wird direkt zum Militärdienst in ein Militärcamp wie Sawa oder Wi’a gebracht.“13 Davon betroffen sind nicht nur Militärdienstentzieher und DeserteurInnen, sondern auch andere Zivilpersonen, die bei solch einer Razzia keine Nachweise vorlegen können.13

Die eritreische Regierung schränkte die Möglichkeit der legalen Ausreise massiv ein. Ausreisevisa werden nur erteilt, wenn Personen ihre Wehrpflicht absolviert haben oder freigestellt wurden.14 In der Praxis werden Männern bis zum Alter von 54 Jahren, Frauen bis zum Alter von 47 Jahren und Zeugen Jehovas Ausreisevisa grundsätzlich verweigert. Ab 2006 verweigerte die Regierung das Ausstellen von Ausreisevisa auch Kindern ab dem 11. Lebensjahr.15

Am 11. Februar 2009 berichtete die oppositionelle Eritreische Volkspartei (EPP), dass vier Jugendliche beim Versuch, die Grenze nach Äthiopien zu überschreiten, von Soldaten erschossen wurden. „Die Soldaten umstellten die Jugendlichen, zogen ihre Waffen und nahmen sie gefangen. Sie fragten die Schüler nach ihren Schülerausweisen und aus welchen Orten sie kämen. Die Jugendlichen kamen den Aufforderungen nach. Im nächsten Moment schossen die Soldaten auf die eine Armlänge entfernt stehenden Jugendlichen und töteten vier von ihnen.“16 Human Rights Watch schrieb wenig später, dass es „einen offiziellen Schießbefehl gegen alle gibt, die versuchen, die Grenze zu überwinden.“ Ein ehemaliger Offizier sagte der Organisation: „Dieser Befehl wurde im April 2007 vom Verteidigungsministerium ausgegeben.“17

Eine weitere Maßnahme, um vor Desertion und Flucht abzuschrecken, ist seit Juli 2005 die Praxis der Sippenhaft. Eltern von SchülerInnen, die sich nach der 11. Klasse nicht in Sawa meldeten, Eltern von Deserteuren und Personen, die das Land ohne Ausreise-Visa verließen, mussten eine Geldstrafe zwischen 10.000 und 50.000 Nakfa entrichten.18 Familienangehörige wurden laut Amnesty International manchmal als Geiseln festgenommen, um die gesuchte Person zur Rückkehr zu zwingen.19

Haft und Folter von VerweigerInnen und DeserteurInnen

Die in dieser Broschüre veröffentlichten Dokumente von Human Rights Watch, Amnesty International und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe gehen sehr detailliert auf die Verfolgungsmaßnahmen gegenüber DeserteurInnen und MilitärdienstentzieherInnen ein. Vier Merkmale kennzeichnen diese: Folter und Misshandlung, willkürliche und unbefristete Haft an unbekanntem Ort, keine Strafverfahren und grausame Haftbedingungen.

So führt Human Rights Watch detailliert an Hand von Beispielen die Foltermethoden wie Otto, Helikopter, Ferro, Jesus Christus oder Goma aus, allesamt Fesselungen in äußerst schmerzhaften Positionen, bei denen das Opfer zum Teil tagelang in der Sonne liegen gelassen wird.20

Übereinstimmend wird berichtet, dass Deserteure an unbekannten Orten unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert und keine Strafverfahren durchgeführt werden. Auch Yonas M. und Petros M. waren dieser Situation nach ihrer Abschiebung im Mai 2008 ausgesetzt.

So berichtete Yonas M.: „Wir kamen nach Wi’a. Der Name bedeutet: heiß. Es kommt von der Hitze. Diese Gegend gehört zu den heißesten Eritreas. Ich kam in ein Gefängnis, das Under genannt wird. Es ist ein unterirdischer Raum. Es ist stockdunkel. Dort haben sie uns hineingeschoben. Ich konnte mich anfangs nur stückweise bewegen, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Stück für Stück tastete ich mich vor. Und dann sah ich, dass da bereits ganz viele Menschen waren. Ich konnte die ersten in meiner Nähe sehen. Sie waren bis auf die Unterhosen nackt. Es war unerträglich heiß. Auch ich ertrug keine Kleidung auf dem Leib. Deshalb habe ich mich bis auf die Unterhose ausgezogen. Die Menschen waren total schwach, hatten am ganzen Körper Blasen und Wunden. Der Raum war schätzungsweise 10 x 15 Meter groß. 400 Menschen in diesem Raum. Selbst für’s Stehen ist es zu eng. Manchmal, wenn es der Körper nicht mehr schafft, dann fällst du – wenn du Glück hast – auf den Boden, wenn du kein Glück hast, fällst du auf jemand anderen. Der eine hat seine Beine auf deinem Körper, der andere seinen Körper auf deinem Bauch. Übereinander, wie Sardinen. Am nächsten Tag sind die Schmerzen dann unerträglich, wenn du aufstehst, sich die Körper von-

einander trennen. Dazu kommt das schlechte Essen. Es gab pro Tag drei kleine Hirsebrötchen, nicht einmal 100 Gramm schwer. Es gab Krankheiten. Medizinische Behandlung gab es nicht. Manche sind verrückt geworden. So habe ich sechs Monate unterirdisch verbracht.“21

Petros M. war im ersten Monat in Wi’a in einer anderen Hafteinrichtung mit dem Namen Singo eingesperrt worden, was übersetzt Zink bedeutet. „Als ich nach Singo kam, kam ich zuerst in eine Baracke, deren Dach und Wände aus Zink bestehen. Die Blechverkleidung hat die Hitze von Wi‘a noch verdoppelt. In diese Baracken kommen die Neuen, um sie zu schwächen und zu verhindern, dass sie fliehen. Der Raum ist etwa 4 x 4 Meter. Bis zu 40 Menschen, alles Männer, haben sie da hineingequetscht und dann die Tür verschlossen. Nach ein paar Tagen bist du völlig am Ende.“22

Neben Hunderten von DeserteurInnen, die in Eritrea unter solchen Umständen inhaftiert sind, gibt es in Eritrea auch eine kleine Gemeinde von Zeugen Jehovas, die aufgrund ihrer religiösen Überzeugung keinen Militärdienst ableisten. Eritrea erkennt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht an. Einige Zeugen Jehovas sind nun seit 15 Jahren in Haft, ohne jemals vor Gericht gestellt worden zu sein.23

Bei den Berichten von Yonas M. und Petros M. fällt auf, dass sie während der Verhöre nicht gefoltert wurden, auch wenn die Haftbedingungen extrem schlecht waren. Yonas M. berichtet von den Verhören im 5. Polizeirevier Asmara: „In den Verhören haben sie immer und immer wieder versucht, durch uns an andere zu kommen: ‚Wie bist du abgehauen? Wem hast du Geld gegeben? Ist jemand mit dir gegangen? Wen hast du mitgenommen?‘ Die wollten nur die Namen anderer. Die Fragen kamen immer wieder und sie waren alles andere als freundlich. Es war ein Verhör in einem scharfen militärischen Befehlston. Es ging darum, zu drohen und einzuschüchtern.“ Und Petros M. ergänzt: „Wir wurden in der Tat nicht geschlagen in diesem Monat. Aber sie hatten uns ja in der Hand. Für die Flucht von der Einheit konnte es zwei bis drei Jahre geben. Das gilt für jeden. Bei uns kam die Passgeschichte dazu und drittens, was wir in Europa erzählt hatten, d.h. über Diktatur und Menschenrechtsverletzungen. Das wussten sie schon alles. Geschlagen werden vielleicht solche, von denen man noch etwas wissen wollte. Bei uns wussten sie bereits alles. (…) Während der Verhöre wurde ich nicht geschlagen, aber sehr wohl bedroht: ‚Ihr seid Verräter, Landesverräter, euch zu schlagen ist überflüssig. Euch erwartet eine viel schlimmere Strafe als Schlagen, eine schlimmere Strafe, die ihr verdient habt.‘ Das hat uns völlig fertig gemacht: Was ist eine schlimmere Strafe? Müssen wir sterben?“24

Nach den Schilderungen über die Verhöre war den eritreischen Behörden die Fluchtgeschichte von Yonas M. und Petros M. offensichtlich bereits bekannt. Die Fragen in den Verhören zielten nicht darauf ab, die Motivation für die Flucht nachvollziehen zu können. Die Desertion und die Flucht aus Eritrea werden als Verrat interpretiert. Die Sicherheitskräfte interessierten sich vor allem dafür, Namen, Kontakte und Verbindungen zu den Personen herauszufinden, die bei der Flucht geholfen hatten und damit diesen Verrat unterstützen.

Zugleich deutet der Hinweis auf die noch zu erwartende „schlimme Strafe“ darauf, dass die Haftbedingungen sehr wohl bekannt sind. Es geht ums nackte Überleben, sei es angesichts einer Drohung, die auch die Exekutierung bedeuten kann oder dem Hinweis auf Haftbedingungen, die entmenschlichen und nicht anders als grausam zu bezeichnen sind. Die sich hier artikulierende Willkür der eritreischen Sicherheitskräfte zeigt den Inhaftierten an: Allein wir entscheiden über Leben und Tod. Wir sind das Gesetz.

Abschiebungen nach Eritrea

Der Umgang mit DeserteurInnen und MilitärdienstentzieherInnen ist wohlbekannt. So ist auch die Zahl der Anerkennungen in den Asylverfahren in Deutschland seit 2004 stetig gestiegen. Wurde 2004 bei 7,8% der 616 Entscheidungen zu Eritrea ein asylrechtlicher Schutz oder zumindest ein Abschiebehindernis gewährt, so waren es 2007 bei 452 Entscheidungen insgesamt 55,5% (davon 34,8% mit einem asylrechtlichen Schutz).25 45% wurden also abgelehnt – und zwei der Antragsteller waren Yonas M. und Petros M. Nachdem bekannt wurde, wie es ihnen in Eritrea ergangen war, stiegen die Anerkennungszahlen noch einmal deutlich an.

Amnesty International stellte im Mai 2009 eine Liste zusammen, wonach es innerhalb von zehn Monaten nachweisbar 1.200 Abschiebungen aus europäischen und nordafrikanischen Ländern gegeben hatte. Seit 2007 gab es Abschiebungen aus Deutschland, Ägypten, Libyen, Schweden und Großbritannien. „Fast alle wurden sofort nach ihrer Ankunft in Eritrea verhaftet,“ so Amnesty International.26

Auf Grundlage des Rückübernahmeabkommens der Europäischen Union mit Libyen aus 2004 kommt es seitdem auch zu Kettenabschiebungen. So unternahm Italien Massenabschiebungen nach Libyen ohne Prüfung des Asylrechts der Betroffenen. Seit Mai 2009 wird zudem die in dem „Freundschafts- und Kooperationsvertrag“ beschlossene Rückweisung in internationalen Gewässern des Mittelmeeres praktiziert. Menschen in Flüchtlingsbooten werden ohne Prüfung ihres Flüchtlingsstatus‘ nach Libyen abgeschoben, wo ihnen Misshandlung, Inhaftierung auf unbestimmte Zeit sowie die Abschiebung nach Eritrea drohen.27

An der ägyptisch-israelischen Grenze, über die viele eritreische Flüchtlinge versuchen, nach Israel zu fliehen, werden seit 2007 vermehrt Flüchtlinge durch ägyptische Sicherheitskräfte erschossen. Seit 2007 ist die Zahl der getöteten Flüchtlinge auf über 80 gestiegen. Zudem gibt es immer wieder Zurückweisungen von Schutzsuchenden durch die israelischen Grenzsoldaten. Da in Ägypten die Abschiebung in das Herkunftsland droht, verstößt Israel mit dieser Politik gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.28

Grund für die Ablehnungen in Deutschland war in den vergangenen Jahren immer wieder die Feststellung des Bundesamtes für Migration, dass die Angaben der Antragsteller in der Anhörung unglaubwürdig seien. Das Wissen, das sich die Einzelentscheider durch Studium der Akten angeeignet hatten, wurde als wahr unterstellt und jede Differenz der Angaben der Asylantragsteller dazu als Indiz gewertet, dass ihr Asylbegehren insgesamt unglaubwürdig sei.29 Hinzu kommt im Flughafenverfahren, dass sich die Asylsuchenden praktisch in einer Haftanstalt befinden und kaum Möglichkeiten der Kontaktaufnahme nach außen haben.

In dieser Situation befand sich zum Zeitpunkt der Abschiebung von Yonas M. und Petros M. ein weiterer eritreischer Deserteur, Abdelrahman Ferah. Auch ihm drohte 2008 eine Abschiebung aus dem Flughafenverfahren heraus. Erst durch Intervention und aufgrund der Inhaftierung von Yonas M. und Petros M. in Asmara gelang es, sein Asylbegehren glaubhaft und insbesondere deutlich zu machen, dass ihn bei einer Abschiebung nach Eritrea ebenso eine Inhaftierung als Deserteur erwartet. Nachdem das Bundesverfassungsgericht eine Ausweisung nach Eritrea untersagte, erkannte das Bundesamt für Migration Abdelrahman Ferah als Flüchtling nach der Genfer Konvention an.30 Wie der Tabelle der Asylverfahren von Eritreern zu entnehmen ist, stieg danach auch insgesamt die Zahl der positiven Entscheidungen in den Asylverfahren noch einmal deutlich an.

Notwendiger Schutz

Eritrea ist heutzutage eines der Hauptfluchtländer. Weltweit stellten 2009 42.200 eritreische Staatsangehörige Asylanträge31, die meisten unter ihnen war DeserteurInnen und MilitärdienstentzieherInnen, die sich einer allumfassenden Wehrpflicht entzogen. Aufgrund der Politik der Europäischen Union, Flüchtlingen den Zugang zu verwehren, konnten jedoch lediglich 5.027 von ihnen in der Union einen Asylantrag stellen.32

So erfreulich die Entwicklung bei den Anerkennungsquoten für Flüchtlinge aus Eritrea durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist, müssen wir doch sehen, dass dies offensichtlich nur aufgrund der von verschiedenen Organisationen dokumentierten Situation in Eritrea erfolgte. Nur dadurch lassen sich die Steigerungen nach 2004 und 2008 erklären, denn die Situation selbst ist schon wesentlich länger bekannt. Unverantwortlich ist, dass offensichtlich mit falschen Behauptungen versucht wurde, Flüchtlingen das Asylbegehren abzusprechen. Die Abschiebung von Yonas M. und Petros M. zeigt, mit welcher Leichtfertigkeit die gesetzlichen Regelungen in den Asylverfahren von deutschen Behörden gegen die Schutzbedürftigen gewandt werden.

Durch ihre Flucht aus dem Militär oder auch durch ihre Wehrpflichtentziehung und in gleicher Weise durch ihre Flucht aus Eritrea werden diese von der eritreischen Regierung als VerräterInnen des Landes, aber auch als VerräterInnen des politischen Konzepts und der Ideologie der herrschenden Partei Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (PFDJ) angesehen. Ihre Handlung, wie sie auch immer motiviert sein mag, wird als politische regimefeindliche Handlung verstanden. Die Verfolgung, die in Eritrea in besonders grausamer willkürlicher Weise erfolgt, ist mithin immer eine politische Verfolgung.

Fußnoten

1 Human Rights Watch: Eritrea – Service for Life – State Repression and Indefinite Conscription in Eritrea. April 2009. 1-56432-472-9, www.hrw.org/node/82284

2 Interview mit Yonas M. und Petros M., 17. und 24. Juni 2010

3 Schweizerische Flüchtlingshilfe: Eritrea: Wehrdienst und Desertion. Themenpapier von Rico Tuor, 23. Februar 2009, www.fluechtlingshilfe.ch/herkunftslaender/africa/eritrea

4 Howard Hughes (2004); Eine Volksarmee besonderer Art – der Militärkomplex in Eritrea: www.Connection-eV.org/pdfs/eri_militaer.pdf, S. 32

5 Amnesty International (2008), Amnesty Report. Eritrea. www.amnesty.de/jahresbericht/2008/eritrea

6 Interview mit Yonas M. und Petros M., 17. und 24. Juni 2010

7 Schweizerische Flüchtlingshilfe: Update vom Februar 2010 von Alexandra Geiser. 8. Februar 2010, www.fluechtlingshilfe.ch/herkunftslaender/africa/eritrea

8 Gaim Kibreab: “Forced Labour in Eritrea,” Journal of Modern African Studies, 47, 1 (2009), S. 41-72

9 Schweizerische Flüchtlingshilfe (2009), www.fluechtlingshilfe.ch/herkunftslaender/africa/eritrea

10 Schweizerische Flüchtlingshilfe (2009), www.fluechtlingshilfe.ch/herkunftslaender/africa/eritrea, mit Verweis auf Howard Hughes (2004), www.Connection-eV.org/pdfs/eri_militaer.pdf

11 Human Rights Watch (HRW) (2008), World Report. Events of 2007, S. 113: www.hrw.org/sites/default/files/reports/wr2k8_web.pdf

12 Sudan Tribune: More Eritrean refugees fly to USA from Ethiopia. www.sudantribune.com/spip.php?article35730

13 Human Rights Watch: Eritrea – Service for Life – State Repression and Indefinite Conscription in Eritrea. April 2009. 1-56432-472-9, www.hrw.org/node/82284

14 Howard Hughes (2004); Eine Volksarmee besonderer Art – der Militärkomplex in Eritrea: www.Connection-eV.org/pdfs/eri_militaer.pdf, S. 24

15 United States Department of State (2008), 2007 Country Reports on Human Rights Practices – Eritrea. www.unhcr.org/cgi-bin/texis/vtx/refworld/rwmain?page=printdoc&docid=47d92c16c1

16 Eritrean Peoples Party (EPP): The Shoot-to-Kill Heinous Policy Brings the Death of Four Innocent Teenager Boys. 11. Februar 2009. www.Connection-eV.org/article-581.

17 Human Rights Watch: Eritrea – Service for Life – State Repression and Indefinite Conscription in Eritrea. April 2009. 1-56432-472-9, www.hrw.org/node/82284

18 Schweizerische Flüchtlingshilfe (2009), www.fluechtlingshilfe.ch/herkunftslaender/africa/eritrea

19 Amnesty International (2008), Amnesty Report. Eritrea: www.amnesty.de/jahresbericht/2008/eritrea

20 Human Rights Watch: Eritrea – Service for Life – State Repression and Indefinite Conscription in Eritrea. April 2009. 1-56432-472-9, www.hrw.org/node/82284

21 Interview mit Yonas M. und Petros M., 17. und 24. Juni 2010

22 Interview mit Yonas M. und Petros M., 17. und 24. Juni 2010

23 Abraham Mehreteab: Gibt es einen sicheren Ort für eritreische Flüchtlinge?, siehe Seite 9

24 Interview mit Yonas M. und Petros M., 17. und 24. Juni 2010

25 Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, www.bamf.de

26 Amnesty International: Eritrea: Sent Home to Detention and Torture. Mai 2009. AFR 64/002/2009

27 Fortress Europe Report 2007: Escape from Tripoli, http://fortresseurope.blogspot.com/2006/01/download-libya-2007-report.html; Italien finanziert, Libyen deportiert die Eritreerinnen von Misratah, http://no-racism.net/article/3426/. Vgl. auch Pro Asyl: Eritreische Frauen auf der Flucht im Transit. Unveröffentlichtes Manuskript, September 2010

28 Sudan Tribune: Sudanes refugee shot fleeing Egypt for Israel. 4.7.2010. www.sudantribune.com/spip.php?article22700. The JerusSenait Post: Egypt kills 3 African migrants in Sinai border „death zone“. 4.2.2010, www.jpost.com/MiddleEast/Article.aspx?id=172284. Vgl. auch Pro Asyl: Eritreische Frauen auf der Flucht im Transit. Unveröffentlichtes Manuskript, September 2010

29 siehe hierzu die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu Yonas M. und die Erwiderung der Rechtsanwältin in ihrem Eilantrag

30 Connection e.V. und AG „KDV im Krieg“ (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Juli 2008 und September 2008

31 UNHCR: Global Trends 2009, www.unhcr.org/4c11f0be9.html. Vgl. auch Pro Asyl: Eritreische Frauen auf der Flucht im Transit. Unveröffentlichtes Manuskript, September 2010

32 UNHCR: Asylum Levels and Trends in Industrialized Countries 2009. www.unhcr.org/4ba7341a9.html. Vgl. auch Pro Asyl: Eritreische Frauen auf der Flucht im Transit. Unveröffentlichtes Manuskript, September 2010

Rudi Friedrich: Eritrea: Politische Verfolgung von Desertion und Verweigerung. September 2010

 

Rudi Friedrich ist Mitarbeit von Connection e.V.

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