Das Fehlen einer Alternative zum Militärdienst in der Türkei verletzt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung

Urteil vom 22. November 2011 - Erçep gegen Türkei

von Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Yunus Erçep, Zeuge Jehova, wurde im März 1998 zum Militärdienst einberufen. Er kam der Einberufung nicht nach und wurde deshalb als Deserteur angesehen. Das Militärgericht Trabzon eröffnete ein Strafverfahren gegen ihn. Er wurde mehrmals zu Haftstrafen verurteilt, weil er etwa 15 Mal den Einberufungen nicht nachkam. In einem Urteil vom 7. Mai 2004 entschied das Militärgericht, die Strafen zu sieben Monaten und 15 Tagen Haft zusammenzufassen. Er verbüßte fünf Monate Haft und wurde dann auf Bewährung entlassen. Nachdem das Parlament im Oktober 2006 ein Gesetz verabschiedet hatte, wonach Militärgerichte nicht länger für Verfahren gegen Zivilpersonen zuständig sind, wurden die noch offenen Verfahren gegen Yunus Erçep an normale Gerichte überstellt. Seit März 1998 wurden mehr als 25 Verfahren gegen ihn eröffnet. Als Folge seiner beständigen Weigerung, den Militärdienst abzuleisten, sah er sich mit jeder neuen Einberufung einem weiteren Verfahren ausgesetzt. Yunus Erçep legte Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verstoßes gegen Artikel 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit ) und gegen Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) ein. Wir dokumentieren das Urteil in Auszügen. (d. Red.)

Urteil

Artikel 9

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

47. Das Gericht hat kürzlich die Rechtsprechung zur Anwendbarkeit des Artikel 9 der Konvention bezüglich der Kriegsdienstverweigerung revidiert (Urteil der Großen Kammer im Fall Bayatyan gegen Armenien, Nr. 23459/03 vom 7. Juli 2011) Das Gericht stellte darin fest, dass die Ablehnung des Militärdienstes – wenn sie motiviert ist durch einen ernsthaften und unüberwindlichen Konflikt zwischen der Pflicht, Dienst in der Armee abzuleisten, und dem Gewissen oder tiefen und aufrichtigen religiösen oder anderen Überzeugungen des Einzelnen – eine Überzeugung oder einen Glauben mit einer ausreichenden Schlüssigkeit, Ernsthaftigkeit, Bindekraft und Bedeutung bildet, um unter die Garantien des Artikels 9 zu fallen. Ob und in welchem Ausmaß die Kriegsdienstverweigerung in den Bereich dieser Regelung fällt, muss jeweils im Licht der besonderen Umstände eines Falles betrachtet werden

48. Das Gericht sieht, dass der Antragsteller Mitglied der Zeugen Jehovas ist, einer religiösen Gruppe, die gegen den Dienst im Militär ist, auch gegen den unbewaffneten. Das Gericht hat daher keinen Grund, daran zu zweifeln, dass seine Verweigerung des Militärdienstes durch religiöse Überzeugungen motiviert ist, die echt sind und in ernsthaftem und unüberwindlichem Konflikt mit seiner Verpflichtung stehen, den Militärdienst abzuleisten. Entsprechend war Artikel 9 auf diesen Fall anzuwenden.

58. Das Gericht stellt fest, dass alle männlichen Bürger, die tauglich gemustert sind, nach Artikel 72 der Verfassung und dem Militärdienstgesetz §§ 31 und 33 zur Ableistung eines nationalen Dienstes verpflichtet sind. Da es keinen Zivildienst gibt, haben Kriegsdienstverweigerer keine andere Möglichkeit, als sich der Einziehung in der Armee zu verweigern, um ihren Überzeugungen treu zu bleiben. Sie sind damit einer Art „zivilem Tod“ ausgesetzt aufgrund der zahlreichen gegen sie erhobenen Anklagen, die sich daraus ergebenden summierenden Effekte der Verurteilungen und dem ständigen Wechsel von Anklagen und Zeiten der Inhaftierung in Verbindung mit der Möglichkeit, dass sie einer lebenslangen Strafverfolgung unterliegen. Im Urteil Ülke hat das Gericht festgestellt, dass diese Situation nicht in Übereinstimmung mit den Strafregelungen einer demokratischen Gesellschaft im Sinne von Artikel 3 steht.

63. Das Gericht kam zu der Schlussfolgerung, dass das System der Wehrpflicht, das in der Türkei in Kraft ist, den Bürgern eine Verpflichtung auferlegt, die schwerwiegende Konsequenzen für Kriegsdienstverweigerer hat: Es gibt keine einzige Ausnahmeregelung im Falle von Gewissensgründen und im Ergebnis die Verhängung strafrechtlicher Sanktionen gegen diejenigen, die, wie der Antragsteller, die Ableistung des Militärdienstes verweigern.

64. Das Gericht stellt fest, dass solch ein System keinen fairen Ausgleich herstellt zwischen den Interessen der Gesellschaft und denen des Antragstellers. In der Konsequenz können die ihm auferlegten Strafen, angesichts der Tatsache, dass der Antragsteller keine Anerkennung seines Gewissens und seiner Überzeugungen erfuhr, nicht als eine Maßnahme angesehen werden, die für eine demokratische Gesellschaft notwendig ist.

Artikel 6

Recht auf ein faires Verfahren

66. Der Antragsteller bemängelte die Tatsache, dass er als Zivilist vor einem Gericht erscheinen musste, das ausschließlich aus Offizieren des Militärs bestand. Er sieht darin eine Verletzung des Artikels 6 Abs. 1 der Konvention.

68. Das Gericht stellt fest, dass es bereits ähnliche Beschwerden in der Vergangenheit behandelt und eine Verletzung des Artikels 6 Abs. 1 der Konvention festgestellt hat. In diesen Urteilen sieht es das Gericht als nachvollziehbar an, dass der Antragsteller, der als Zivilist vor einem Gericht steht, dass nur aus Offizieren bestellt, angeklagt wegen Straftaten der Propaganda gegen den Militärdienst, besorgt darüber sein muss, dass die Richter Angehörige der Armee sind, die als Teil einer Partei des Verfahrens angesehen werden können. Der Antragsteller muss legitimerweise befürchten, dass das Gericht sich unrechtmäßig von Eigeninteressen leiten lässt. Deshalb müssen die Zweifel des Antragstellers über die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit als objektiv gerechtfertigt angesehen werden.

69. Das Gericht nimmt zur Kenntnis, dass der Antragsteller vor dem Strafrecht kein Mitglied der Streitkräfte war, sondern eine Zivilperson, auch wenn er wegen Vergehen nach dem Militärstrafgesetzbuch angeklagt wurde. Desweiteren war nach einem Urteil des Gerichts zu Streitfällen der Gerichtsbarkeit (Jurisdiction Dispute Court) vom 13. Oktober 2008 klar, dass eine Person nach dem türkischen Strafgesetzbuch nur von dem Zeitpunkt an als Angehörige der bewaffneten Streitkräfte angesehen wird, wenn er oder sie sich beim Regiment zur Ableistung des Dienstes meldet. Das Gericht sieht es als nachvollziehbar an, dass Herr Erçep, ein Zivilist, der vor einem Gericht steht, das nur aus Militärs besteht, der wegen Vergehen bezüglich des Militärdienstes angeklagt ist, besorgt darüber sein muss, dass die Richter Angehörige der Armee sind, die als Teil einer Partei des Verfahrens angesehen werden können.

70. Infolgedessen stellt das Gericht eine Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention fest.

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Urteil vom 22. November 2011 im Fall Erçep v. Turkey. Antrag Nr. 43965/04. Auszüge. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Broschüre „Kriegsdienstverweigerung in der Türkei“, Mai 2012

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