Fallstudie Kriegsdienstverweigerung und Ersatzdienst in Deutschland

von Rudi Friedrich

(18.11.2023) Ich bin Rudi Friedrich von Connection e.V., einem Verein mit Sitz in Deutschland. Ich selbst habe vor etwa 40 Jahren meine Kriegsdienstverweigerung erklärt. Damals hatten wir in Deutschland ein System von Prüfungsausschüssen, die beim Rekrutierungsbüro des Militärs angesiedelt waren. Ich musste vor solch einem Prüfungsausschuss meine Kriegsdienstverweigerung begründen. Damals war ich bereits in der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen in Deutschland aktiv. Wenn ich heute die Berichte aus Südkorea höre, erinnert mich das sehr an den Kampf, den wir vor einigen Jahrzehnten in Deutschland hatten.

In Deutschland ist die Kriegsdienstverweigerung durch das Grundgesetz anerkannt. Aber wie wurden Kriegsdienstverweiger*innen in der Gesellschaft gesehen? Das Militär hat immer versucht, den Dissens über die Dominanz des Militärs durch ein Militärdienstsystem und die Kontrolle des Anerkennungsverfahrens zu kanalisieren.

Ich möchte Ihnen eine kurze Einführung in das System und die Entwicklungen in Deutschland geben. Sie wissen, dass Deutschland geteilt war. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Westdeutschland erfolgreich gefordert, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz zu verankern. Einige Jahre später, zu Beginn des Kalten Krieges in Mitteleuropa, wurde die Militärdienstpflicht wieder eingeführt, zunächst in Westdeutschland, einige Jahre später auch in Ostdeutschland.

Hier einige Fakten auf einem Zeitstrahl für West- und Ostdeutschland

Zeitleiste BRD (West-Deutschland)

1949 Grundgesetz Art. 4, 3: Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.

1956 Wiedereinführung der Militärdienstpflicht

1961 Einführung des Zivildienstes, hauptsächlich im sozialen Bereich

Ab 1970 steigende Zahl von Anträgen auf Kriegsdienstverweigerung (Studierendenbewegung)

Zeitleiste DDR (Ost-Deutschland)

1962 Einführung der Militärdienstpflicht in Ostdeutschland

1962 Einführung eines Bausoldat*innendiensts (Teil des Militärs)

 

1991 Wiedervereinigung von West- und Ostdeutschland. Übernahme der Regelungen aus Westdeutschland in Ostdeutschland

2011 Aussetzung der Militärdienstpflicht

In Westdeutschland stieg die Zahl der Kriegsdienstverweiger*innen im Laufe der Jahre an, besonders Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre. Im Zuge der Studierendenbewegung wurde die Kriegsdienstverweigerung als Opposition zur staatlichen Politik, zur herrschenden militärischen Auseinandersetzung sowie zu den bestehenden Feindbildern verstanden. Kriegsdienstverweigerung wurde zu einem politischen Akt. Auch eine selbstorganisierte Gruppe der Zivildienstleistenden (= Dienstleistende) war Teil des Kampfes. Am Anfang standen Proteste und Streiks gegen die Kasernierung, später ging es um die politische Betätigung im Dienst, die Dauer des Zivildienstes und weitere Aspekte des Zivildiensts.

In Ostdeutschland wurde zu einem ähnlichen Zeitpunkt die Möglichkeit des Dienstes ohne Waffen eingeführt, allerdings nur als sogenannte „Bausoldat*innen" des Militärs. In der DDR gab es zuletzt eine große Bewegung von Totalverweiger*innen, die von den Behörden weitgehend unangetastet blieb.

Die Einstellung zur Kriegsdienstverweigerung und zum Zivildienst änderte sich im Laufe der Jahre. Mehr und mehr Zivildienstleistende wurden aufgrund ihrer Arbeit im sozialen Bereich als positiver Beitrag für die Gesellschaft angesehen. Die Ablehnung von Kriegsdienstverweiger*innen wandelte sich in eine Anerkennung der Zivildienstleistenden. Und auch die Motivation der Kriegsdienstverweiger*innen selbst änderte sich: Wurde die Kriegsdienstverweigerung in den 1970er Jahren noch als ein politischer Akt gesehen, so wurde sie zunehmend als eine persönliche Entscheidung gegen das Militär und für einen positiven Beitrag für die Gesellschaft betrachtet.

Dies spiegelte sich auch in der Beratung wider, die wir innerhalb der Friedensbewegung anboten. Anfangs kamen die Ratsuchenden mit der Frage zu uns, wie sie ihre Kriegsdienstverweigerung erklären könnten. Später kamen sie mit der Frage, wie sie Zivildienst leisten können.

Ein Ergebnis war die hohe Zahl der Kriegsdienstverweiger*innen. Zwischen 1961 und 2011 wurden insgesamt 8.406.409 Militärpflichtige einberufen. Zwischen 1961 und 2011 leisteten insgesamt 2.726.636 Personen Zivildienst (24,5%).

In den letzten Jahren vor der Aussetzung der Militärdienstpflicht hatten wir in Deutschland sogar die Situation, dass viele Militärdienstpflichtige einfach nur abgewartet haben und keinen Dienst leisten mussten. Der deutsche Militär (Bundeswehr) war nicht mehr in der Lage, alle Militärdienstpflichtigen einzuberufen. Diejenigen, die den Kriegsdienst verweigerten, wurden aber sehr wohl zum Zivildienst einberufen.

In unserem Kampf war es immer sehr wichtig zu sehen, welche Interessen die verschiedenen Teile der Gesellschaft in Bezug auf Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst hatten. Um das ein bisschen besser zu verstehen, möchte ich die verschiedenen Perspektiven, die wir in unserer Gesellschaft zu diesem Thema hatten, darstellen.

Ich habe bereits erwähnt, dass das Militär immer versucht hat, die Kriegsdienstverweigerung zu behindern und zu kontrollieren oder zumindest durch das System der Militärdienstpflicht einzuschränken. Das Militär tat dies, indem es das Verfahren kontrollierte, dem man sich unterziehen musste, um als Kriegsdienstverweiger*in anerkannt zu werden, und indem es abschreckende Maßnahmen gegen Kriegsdienstverweiger*innen durchgesetzt hat. Kriegsdienstverweiger*innen waren als Zivildienstleistende Teil des Militärdienstsystems. Außerdem wurde eine Gewissensprüfung eingeführt. Kriegsdienstverweiger*innen wurden immer wieder befragt: Warum gehst du nicht zum Militär? Sie waren gezwungen, ihre Entscheidung zu begründen. Der Zivildienst war länger als der Militärdienst. Die Regierung versuchte, Zivildienstleistende zu kasernieren. Grundrechte wurden ausgesetzt, der Sold war niedrig. Und schließlich wurden alle, die sich diesen Postulaten nicht unterwarfen (Totalverweiger*innen), kriminalisiert.

Die Perspektive der antimilitaristischen Organisationen. Es gab unterschiedliche Standpunkte innerhalb der Organisationen. Eine Fraktion konzentrierte sich auf das individuelle Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Sie setzte sich sehr stark für die Stärkung des Ansehens der Kriegsdienstverweigerung ein.  Durch die Erhöhung der Zahl der Kriegsdienstverweiger*innen wollten sie das Militär schwächen. Das hat nicht geklappt. Die andere Fraktion konzentrierte sich auf die Kriegsdienstverweigerung als einen Akt des Widerstandes gegen das Militär. Sie kritisierten, dass Kriegsdienstverweiger*innen für einen Kriegseinsatz vorgesehen waren und im Rahmen der Militärdienstpflicht einberufen wurden. Sie sahen eine wichtigere Rolle für den politischen Kampf bei der (geringen) Zahl der Totalverweiger*innen.

Die Perspektive der Kriegsdienstverweiger*innen/Zivildienstleistenden. Ich habe bereits erwähnt, wie sich dies im Laufe der Jahre entwickelt hat. In den 70er Jahren sahen Kriegsdienstverweiger*innen ihre Entscheidung als einen Akt des Widerstands gegen das Militär, aber mehr und mehr sahen sie den Zivildienst als eine Alternative zum Militär und waren froh, die Anerkennung durch soziales Engagement zu bekommen.

Perspektive der Wohlfahrtsverbände. Organisationen des sozialen Sektors, für die Zivildienstleistende ihren Dienst verrichteten, betrachteten sie als billige Arbeitskräfte. Und mit der Idee, etwas Gutes für die Gesellschaft zu tun, waren sie auch motivierte Arbeitskräfte. Daher ist in den Diskursen über die Militärdienstpflicht zu erkennen, dass die Wohlfahrtsverbände an einer Ausweitung der Dienstverpflichtung interessiert sind, z.B. durch ein verpflichtendes soziales Jahr, um die Zahl der billigen Arbeitskräfte zu erhöhen.

Zusammenfassung

Vor allem Mitte der 1970er Jahre wurde Kriegsdienstverweigerung als ein politischer Akt gegen Krieg und Militär gesehen. Später wurde die Kriegsdienstverweigerung allgemein als ein individueller Schritt betrachtet, der weitgehend persönlich motiviert war. Die große Zahl von Zivildienstleistenden in sozialen Einrichtungen veränderte die Sichtweise. Zwar wurde die Kriegsdienstverweigerung an sich nicht als positiv angesehen, wohl aber ihre soziale Wirkung.

Rudi Friedrich ist Geschäftsführer von Connection e.V.

Connection e.V., www.Connection-eV.org

Rudi Friedrich: Fallstudie Kriegsdienstverweigerung und Ersatzdienst in Deutschland. Redebeitrag auf der Internationalen Konferenz „Kriegsdienstverweigerung in Asien - Analysen und Perspektiven“, 18. November 2023 in Seoul, Südkorea.

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