Ukraine- In Zeiten des Krieges nicht töten zu müssen ist ein grundlegendes Recht

von Yurii Sheliazhenko

(19.11.2023) Liebe Freund*innen, ich grüße euch aus Kyiv, der Hauptstadt der Ukraine. Mein Name ist Yurii Sheliazhenko. Ich vertrete die Ukrainische Pazifistische Bewegung und werde über die Antikriegsbewegung in meinem Land sprechen. Zunächst möchte ich den Organisator*innen dieser Veranstaltung für die wichtige Diskussion und die seltene Gelegenheit danken, ukrainische und russische Aktivist*innen gemeinsam zu hören. Es ist fast ein Wunder, in beiden Ländern sind die Menschen heute durch die militaristische Propaganda mit ihren fiktiven Feindbildern so dämonisiert – und Feindbilder sind immer fiktiv – dass sich selbst Aktivist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen weigern, einen Dialog zu führen. Es ist ein Tabu, aber nicht für Mitglieder von Friedensbewegungen.

Wir haben jeden Tag Fliegeralarm wegen der anhaltenden russischen Aggression gegen die Ukraine und der Bombardierung unserer Städte. Auch gestern musste ich mich in einem Bunker verstecken, in einer kalten Tiefgarage.

Geschichte einer Kultur des Friedens in der Ukraine

In allen Ländern, selbst in sehr militarisierten, gibt es eine Kultur des Friedens. Die Ukraine hat eine schwach institutionalisierte Friedenskultur, aber wir haben eine lange Geschichte. Dazu gehören zum Beispiel einige mittelalterliche Äußerungen der Herrschenden der Kiewer Rus, die den Wunsch nach einem Leben in Frieden zum Ausdruck brachten. Einer dieser Herrscher rief seine Brüder auf, keine Kriege zu führen, da jeder Konflikt zum Verlust aller Errungenschaften unseres Staates führen könnte. Der große ukrainische Dichter Taras Schewtschenko wurde als Strafe für seine Kritik an der Tyrannei des russischen Zarenreichs eingezogen. Er wurde zu einem zehnjährigen Militärdienst verpflichtet. Die Menschen, natürlich auch die Bauern, rebellierten immer wieder gegen die Militärdienstpflicht. Und einer der Begründer der ukrainischen Bildung, der große Pädagoge Mykhailo Drahomanov, veröffentlichte in Genf eine Sammlung von Antikriegsliedern, die er bei ethnografischen Studien in ukrainischen Dörfern gesammelt hatte.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in der Ukraine eine Sektion der War Resisters’ International. Sie wurde von Anhängern Leo Tolstois gegründet und nannte sich „Brüderliches Arbeitsvolk“. Es handelte sich um eine Kommune, die den universellen Frieden anstrebte. Alle Menschen sollten sich zu einer gerechten und einfachen Lebensweise verpflichten, vor allem zur Arbeit auf ihrem Land. Sie kamen zu einer der Versammlungen der War Resisters’ International in Wien. Eine detailliertere Geschichte des Friedens und der Friedensbewegungen in der Ukraine können Sie in einem YouTube-Video mit dem Titel Peaceful History of Ukraine sehen.

Ukrainische Pazifistische Bewegung

Die Ukrainische Pazifistische Bewegung wurde während der Proteste 2019 gegen gewaltsame Einberufungen gegründet, um den Frieden zu fördern und aufzubauen und das Recht eines jeden zu verteidigen, nicht zu töten.

Wir haben eine Vision des Friedens und einen Weg zum Frieden entwickelt. Sie heißt „Friedensagenda für die Ukraine und die Welt“ und wurde letztes Jahr während unseres Online-Treffens zum Internationalen Tag des Friedens verabschiedet. Sie basiert auf der Idee, dass es in einer Welt, in der jede*r das Töten ablehnt, keine Kriege mehr geben wird. Das ist natürlich eine große Vision, die viele Generationen von Kriegsgegner*innen teilen. Und sie basiert auf der Erklärung der War Resisters’ International: „Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Deshalb bin ich entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und mich für die Beseitigung aller Kriegsursachen einzusetzen.“ Wir verurteilen alle Kriege und verpflichten uns zu gewaltfreiem Widerstand, denn Gewalt kann Gewalt nicht stoppen. Sie vergrößert nur das Ausmaß und die Zahl der Schmerzen und Verluste. Die einzige Hoffnung, die Gewalt zu beenden, besteht darin, zu lernen, wie man der Gewalt ohne Gewalt widerstehen kann.

Im aktuellen Ukraine-Krieg setzen wir uns für einen Waffenstillstand, einen fairen und inklusiven Versöhnungsprozess und vor allem für große Veränderungen hin zu einer gewaltfreien Regierungsführung und für Konfliktlösungen ein, weil die Menschen so enttäuscht und desillusioniert sind von allen Hoffnungen und Ideen auf Frieden. Denn die Kriegspropaganda vereinfacht und verunglimpft die Idee des Friedens.

Viele Jahre lang wurde Frieden als Kapitulation verstanden: Man müsse die Freiheit aufgeben, die eigenen Werte aufgeben und vor allem das ukrainische Territorium aufgeben. Es ging dabei nicht um einen gerechten Frieden. Auf der anderen Seite sollten wir auch keine maximalistischen Ziele verfolgen und nicht bereit sein, gewaltsame Maßnahmen zu ergreifen, um diese Ziele zu erreichen. Denn letztlich müssen wir auf einem umfassenden und fairen Versöhnungsprozess bestehen. Und diese Versöhnung kann nicht erreicht werden, wenn das derzeitige System des Militarismus beibehalten wird. Deshalb fordern wir große Veränderungen ein. Und ohne die Abschaffung des strukturellen Militarismus und der strukturellen Gewalt wird es keinen Frieden geben.

Geschichte des Konflikts Ukraine-Russland

Es ist wichtig zu verstehen, dass ein Konflikt etwas Komplizierteres ist als ein Krieg. Krieg wird manchmal vereinfachend als bewaffneter Konflikt beschrieben, aber Krieg ist nicht das Wesentliche, sondern eher eine sehr hässliche Form eines Konfliktes. Die meisten Konflikte in unserem Leben sind nicht gewaltsam. Sie beruhen auf unterschiedlichen Auffassungen und unterschiedlichen Interessen. Da Menschen vernünftige Wesen sind, die in der Lage sind zu kommunizieren, gibt es gewaltfreie Wege, um mit Konflikten umzugehen. Selbst wenn Menschen sehr tiefgreifende, unterschiedliche Auffassungen haben, können sie eine gemeinsame Basis finden. Bei Konflikten geht es um Beziehungen und darum, die Beziehungen zwischen verschiedenen Menschen oder Gruppen von Menschen in einem Zustand normaler Umgangsweisen zu halten, mit denen sich die Menschen umeinander kümmern, sich nicht gegenseitig schaden oder demütigen wollen; in der Verhandlungstheorie wird diese Haltung als Win-Win bezeichnet.

Wenn Menschen einen Konflikt haben, sind sie bestrebt, ihn zum gegenseitigen Nutzen zu lösen. Deshalb heißt es Win-Win, und in den ukrainisch-russischen Beziehungen hatten wir diese Phase nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991. In dieser Phase der Freundschaft schlossen die Ukraine und Russland einen Freundschaftsvertrag. Einige Radikale in beiden Ländern schürten den Hass, aber er wurde von der staatlichen Politik zurückgewiesen und er wurde nicht zum Mainstream. Als es einigen Radikalen in Russland gelang, im Parlament eine Resolution über territoriale Ansprüche auf der Krim zu verabschieden, hat die russische Regierung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dies einfach verurteilt und anerkannt, dass die Krim zur Ukraine gehört.

Leider endete diese Win-Win-Phase im Jahr 2004, als sich die geopolitischen Einstellungen der Ukraine und Russlands zu unterscheiden begannen, weil die Ukraine vom Westen wirtschaftliche Anreize erhielt und sich für die Integration in die NATO und die Europäische Union einsetzte, während Russland dem Westen gegenüber eine feindselige Haltung einnahm. Diese Haltung bestand in Russland schon seit langem. Es gab auch viele imperialistische Annäherungen an die ehemaligen Sowjetländer, die jetzt unabhängige Nationen sind. Nach der Orangenen Revolution in der Ukraine kam es zu einer Polarisierung in der ukrainischen Gesellschaft. Es kam zu großen wirtschaftlichen Konflikten, den sogenannten Gaskriegen. Als Russland seine Gaslieferungen nach Europa einstellte, um der Ukraine zu schaden, begannen die Handelskriege. Es endete damit, dass prorussische Kreise in der Ukraine einen nationalen Kompromiss in Bezug auf die europäische Integration brachen und sich weigerten, ein mit viel Mühe und Engagement vorbereitetes Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen.

In Kyiv begannen die Proteste gegen das Regime. Der Russland nahestehende Präsident wurde gewaltsam abgesetzt und mit dem Eingreifen der Streitkräfte der Russischen Föderation, insbesondere der Schwarzmeerflotte auf der Krim, änderte sich auch die Politik. Die Krim wurde unter dem Vorwand des Referendums besetzt, und im Donbass kam es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen ukrainischen Regierungskräften und einigen prorussischen Separatistenkreisen, die zunächst informell und dann formell von der russischen Regierung unterstützt wurden. Dies führte zu verlustreichen Gefechten.

Die Minsker Vereinbarungen wurden angenommen, aber sowohl die Ukraine als auch Russland verstießen gegen sie. Selbst auf der Ebene des Waffenstillstands wurde eine politische Aussöhnung nie ernsthaft in Betracht gezogen. Und dann traf der russische Staatschef Wladimir Putin aufgrund eines schwerwiegenden übergreifenden Konflikts zwischen Russland und dem Westen die kriminelle Entscheidung in die Ukraine einzumarschieren, was zu enormen Verlusten führte. Eine halbe Millionen Menschen wurden getötet, weil Putin beschloss, in die Ukraine einzufallen. Und natürlich sagt Putin, es sei Verteidigung.

So sind wir von einem gewaltsamen Konflikt zu einem Krieg, der schlimmsten Art von gewaltsamem Konflikt, gekommen. Friedrich Glasl, ein berühmter, weltweit bekannter Konfliktforscher, nannte es „gemeinsam in den Abgrund schauen“. Wenn Menschen bereit sind, sich gegenseitig zu zerstören, führt das bis zum Abgrund. Der erste wichtige Schritt – und dieser Schritt wird seit Jahrhunderten von War Resisters’ International befürwortet – ist die Weigerung zu töten. Stellen Sie sich vor, Russ*innen und Ukrainer*innen würden sich weigern, sich gegenseitig zu töten. Stellen Sie sich vor, Friedensgespräche würden beginnen, um eine gemeinsame Basis zu finden. Stellen Sie sich vor, dass Abrüstung der Unterdrückung vorgezogen, dass Versöhnung der Abschreckung und dem Streit vorgezogen wird. Stellen Sie sich vor, dass sowohl die Ukraine als auch Russland eine faire Einigung anstreben und nicht auf Zeit spielen. Stellen Sie sich vor, dass der Hass vergessen und eine Einigung erzielt wird. Auf diese Weise könnten wir von einer Lose-Lose-Phase zu einer Win-Win-Phase und damit zu einem gewaltfreien Konflikt zurückkehren. In dieser Phase kommen sich die Menschen näher. Gemeinsame Interessen und die natürliche Verbundenheit aller Menschen werden nicht geleugnet. Und niemand wird ignoriert oder missbraucht.

Dieser Moment hier ist ein Schritt in diese Richtung, aber wir stehen vor Herausforderungen. Die erste Herausforderung ist natürlich das fehlende Wissen, der Mangel an Frieden, Bildung und Militarismus in Schulen und Medien. Sie können auf YouTube mein Video über die Militarisierung der Kinder in der Ukraine finden. Es zeigt, wie traurig und wie groß diese Tendenz ist. Übrigens haben wir über Plagiate in der Dissertation unseres derzeitigen Ministers Lisovyi berichtet und zugleich über seine gegen das Gesetz verstoßende Militarisierung hingewiesen. Das war ein großer Durchbruch gegenüber der totalen Zensur, die jede Erwähnung von Pazifist*innen verbot. Als wir das Plagiat und den Militarismus von Minister Lisovyi aufdeckten, berichteten alle Mainstream-Medien über Pazifist*innen. Aber Pazifist*innen werden verfolgt und fälschlicherweise als Verräter*innen angesehen. Leider ist es üblich, dass unter dem Kriegsrecht die Redefreiheit, die Versammlungsfreiheit und andere bürgerliche Freiheiten in der Ukraine stark eingeschränkt sind.

Hausarrest

Ich stehe zurzeit unter Hausarrest. Ich möchte Ihnen erzählen, wie es dazu kam. Ich habe unsere Friedensagenda für die Ukraine und die Welt erwähnt. Wir haben sie an Präsident Selenskyj und den Menschenrechtsbeauftragten des ukrainischen Parlaments geschickt. Wir baten sie, Frieden mit friedlichen Mitteln, gewaltlosen Widerstand gegen die russische Aggression und rechtliche Garantien für die Kriegsdienstverweigerung in Betracht zu ziehen. Die Antwort war ein Strafverfahren gegen mich und die Drohung, mich für fünf Jahre ins Gefängnis zu stecken und meinen Besitz zu beschlagnahmen. Sie kamen mit einem Durchsuchungsbefehl zu mir. Sie beschlagnahmten meinen Computer und mein Smartphone. Es war der Sicherheitsdienst der Ukraine. Durch eine formelle Verdachtsmeldung erfuhr ich von den absurden Behauptungen, dass in der Erklärung, in der die russische Aggression verurteilt wird, die russische Aggression gerechtfertigt würde. Einige sogenannte Expert*innen in der sogenannten forensischen Sprachforschung bestätigten dies. Das beruht jedoch auf Fehlinterpretationen, falschen Zitaten und so weiter. Nun habe ich Gerichtsbeschlüsse erwirkt, um einige Ungerechtigkeiten zu berichtigen, aber leider werden diese Beschlüsse nicht befolgt und mein Hausarrest ist immer noch in Kraft. Es wird ein langer und problematischer Weg sein, um in diesem Fall Gerechtigkeit zu erreichen. Aber ich bemühe mich sehr.

Kriegsdienstverweigerung und Militärdienstentziehung

In der Ukraine gibt es viele, die sich dem Militärdienst entziehen. Ich bedauere es, dass die Militärdienstentziehung sichtbarer ist als die Kriegsdienstverweigerung, denn jahrhundertelang haben sich Menschen der Militärdienstpflicht entzogen. Sie wurden denunziert, verfolgt, gehasst und bestraft. Deshalb haben die Menschen früher ihre Kriegsdienstverweigerung verheimlicht und sind dazu übergegangen, Schlupflöcher zu suchen und Korruption zu nutzen. Für manche ist dies einfacher und leider neigen die Menschen dazu, einfache Wege zu suchen. Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Menschen entziehen sich der Militärdienstpflicht. Nach offiziellen Angaben des stellvertretenden Verteidigungsministers der Ukraine sind Zehntausende über geschlossene Grenzen aus der Ukraine geflohen. Nach Angaben der BBC sind es 20.000. Es häufen sich die strafrechtlichen Ermittlungen im Zusammenhang mit Kriegsdienstverweigerung und Desertion. So hat sich zum Beispiel die Zahl der Fälle, die sich auf Artikel 336 des ukrainischen Strafgesetzbuches beziehen, vom Vorjahr auf dieses Jahr mehr als verdreifacht.

Leider wird das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung nicht anerkannt, weil die Kriegsanstrengungen in der Ukraine auf der utopischen Vorstellung beruhen, dass jede*r Soldat*in werden muss. Gewaltloser Widerstand wird vernachlässigt, abgelehnt und verhöhnt. Nur einige Enthusiast*innen entwickeln ihn weiter. Dabei gibt es Erfolge. Aus den Medien konnte man erfahren, wie unbewaffnete Menschenmengen russische Panzer während der Invasion aufgehalten haben. Aber das ist nicht das, was von staatlicher Seite gefördert wird. Die Streitkräfte der Ukraine leugnen offiziell das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung. Sie bestehen darauf, dass der Alternativdienst unter dem Kriegsrecht nicht erlaubt ist.

Mir liegt auch ein Schreiben des parlamentarischen Kommissars für Menschenrechte vor, in dem es heißt, dass die Ukraine internationale Verpflichtungen hat, den Alternativdienst zu gewährleisten. Aber auch in diesem Schreiben werde ich aufgefordert wegen der Mobilisierungserfordernisse nicht öffentlich über Kriegsdienstverweigerung zu sprechen.

Es handelt sich also um ein Tabu, es darf nicht öffentlich darüber gesprochen werden. Die ukrainischen Gesetzgeber*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und das Justizsystem räumen den Bedürfnissen der Armee Vorrang vor den Menschenrechtsverpflichtungen des Staates ein. Und wir haben diese Verpflichtungen. Es gibt Artikel 35 der ukrainischen Verfassung, Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

In mehreren Fällen wurden Kriegsdienstverweiger*innen als Militärdienstentziehende zu Haftstrafen verurteilt, zum Teil auf Bewährung. Einer der jüngsten Fälle ist der des Adventisten Dmytro Zelinsky. Dieser christliche Pazifist wurde wegen seiner Kriegsdienstverweigerung zu drei Jahren Haft verurteilt.

Die Rekrutierungszentren des Militärs bestehen auf einer strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsdienstverweiger*innen. Wenn die Polizei zögert, gehen sie vor Gericht und sagen: „Eröffnet ein Verfahren, bestraft sie.“ Bei den Zeug*innen Jehovas beispielsweise werden Menschen, die ihre Weigerung, in der Armee zu dienen, zum Ausdruck bringen, zwangsweise in Rekrutierungszentren gebracht. Auf diese Weise fassen einige Militärs die Menschen an Händen und Beinen und setzen sie in Minibusse, um sie zum Rekrutierungszentrum zu bringen. Die Menschen werden ihrer Freiheit beraubt und der Zwangsrekrutierung unterworfen.

Ein Beispiel, in dem es uns gelungen ist, zu intervenieren: Vitaly Alekseyenko, ein protestantischer Kriegsdienstverweigerer. Ihm wurde eine Bewährungsstrafe für ein Schuldeingeständnis versprochen. Das ist üblich, es wird psychologischer Druck ausgeübt. Und er hat sich sogar formell schuldig bekannt. Er sagte: „Vielleicht bin ich schuldig. Ich bin schuldig vor dem Staat. Aber ich bin nicht schuldig vor Gott.“ Trotz des Versprechens, die Strafe zur Bewährung auszusetzen, verurteilten sie ihn zu einem Jahr Gefängnis, weil er glaubte, vor Gott nicht schuldig zu sein. Mit unserer Unterstützung hob das Oberste Gericht das Urteil auf und ordnete eine Neuverhandlung an, aber die Richter*innen sprachen ihn nicht frei, wie wir es gefordert hatten. Sie beriefen sich auf veraltete Gesetze zum Alternativdienst, die eine Verweigerung in Kriegszeiten nicht zulassen. Wir hatten viel Hoffnung auf eine Verfassungsbeschwerde, aber das Verfassungsgericht fand einen Vorwand, um die Prüfung seiner Verfassungsbeschwerde zu vermeiden. In seinem Fall ist also eine Verurteilung zu einer Haftstrafe möglich. Nach Angaben seines Anwalts hat er kürzlich in einer weiteren Erklärung abgegeben, dass er nicht schuldig ist und ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung hat. Die nächste Anhörung findet am 30. November statt. Ich hoffe, dass die Richter*innen wissen, dass die Welt zuschaut und eine faire Einstellung an den Tag legen werden.

Ein weiterer Fall, den ich gerne erwähne, ist Andrei Vishnevetsky, ein mutiger christlicher Pazifist. Er wurde gegen seinen Willen, also gegen sein Gewissen, zum Soldaten gemacht. Er verklagte Präsident Selenskyj mit der Bitte, ein Verfahren zur Entlassung aus dem Militärdienst zu eröffnen. Denn er hat das Recht dazu. Aber das wurde ihm verweigert, und nun setzen wir das Verfahren fort, um Gerechtigkeit für Andrei zu erreichen. Unsere Menschenrechtsarbeit werden wir fortsetzen. Wir informieren die Öffentlichkeit über das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung und die Verpflichtung des Staates, es in Kriegszeiten zu respektieren. Wir machen Petitionen, wir melden Verstöße gegen dieses Recht und wir bieten Rechtshilfe für Kriegsdienstverweiger*innen wie Andrei Vyshnevetsky und Vitaly Alekseenko.

Abschließend möchte ich sagen, dass wir unsere Anstrengungen vereinen müssen, um unsere gemeinsame Hoffnung auf Frieden auf der Erde zu verwirklichen, denn die militarisierte Kultur, Politik und Wirtschaft erzeugen noch schlimmere Probleme. Ein System des massenhaften Tötens von Feinden und des Wettrüstens kann keinen Frieden bringen. Nur große Veränderungen hin zu einer wissensbasierten, gewaltfreien Lebensweise können Frieden bringen. Wir müssen Frieden studieren und lehren, um große Veränderungen zu unterstützen. Die Hoffnung auf eine Welt ohne Kriege und eine Welt ohne Gewalt muss gefördert und überzeugend dargestellt werden. Wir brauchen mehr Bücher, mehr Lieder, mehr Gedichte, mehr Spiele. Alles, um ein Verständnis für ein Leben ohne Gewalt greifbar zu machen.

Menschen können sich leicht vorstellen, wie sie andere verletzen können. Die Menschen sollten sich aber vor allem vorstellen können wie man ohne Gewalt leben kann. Wir müssen für die Hoffnung eintreten. Und natürlich, wie ich schon sagte, für das grundlegende Recht in Zeiten des Krieges nicht töten zu müssen. Es ist notwendig, um den Militarismus zu zügeln. Nun, dieses grundlegende Recht in Kriegszeiten nicht zu töten, ist im internationalen Recht zwar nominell vorhanden, aber nicht vollständig durch Verträge abgesichert. Es existiert vor allem in der Rechtsprechung. Wir müssen uns also für strenge und starke Garantien für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im internationalen Recht einsetzen, idealerweise für ein Verbot der Militärdienstpflicht.

Es gibt Berichte und Veröffentlichungen über Verstöße gegen das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Sagen Sie es weiter. Und an die Leute, die etwas für die #ObjectWarCampaign spenden können, denn die #ObjectWarCampaign ist eine wichtige internationale Kampagne, die sich für Asyl und Schutz für Kriegsdienstverweiger*innen und Deserteur*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine in Europa einsetzt. Und wie ich bereits sagte, ist es vielen Menschen gelungen, dem Krieg zu entkommen. Sie befinden sich in einer prekären Lage. Sie brauchen Unterstützung. Die #ObjectWarCampaign bietet diese Unterstützung durch Rechtshilfe für Menschen hier in der Ukraine. So könnten sie in Zukunft eine angemessene Garantie für ihre Kriegsdienstverweigerung erhalten und müssten nicht aus ihrem Land fliehen.

Ich danke Ihnen.

Yurii Sheliazhenko ist Jurist, Menschenrechtsverteidiger, Kriegsdienstverweigerer und Pazifist sowie Geschäftsführer der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung.

Ukrainian Pacifist Movement, shelya.work(at)gmail.com, www.pacifism.org.ua

Yurii Sheliazhenko: In Zeiten des Krieges nicht töten zu müssen ist ein grundlegendes Recht. Redebeitrag auf der Internationalen Konferenz „Kriegsdienstverweigerung in Asien - Analysen und Perspektiven“, 19. November 2023 in Seoul, Südkorea. Der Beitrag wurde in Auszügen veröffentlicht in der Broschüre „Internationale Konferenz Kriegsdienstverweigerung in Asien“, Herausgegeben von Connection e.V. in Kooperation mit World Without War und War Resisters International, März 2024

Stichworte:    ⇒ Friedensbewegung   ⇒ Krieg   ⇒ Kriegsdienstverweigerung   ⇒ Ukraine