Wir wollen Kriegsdienstverweiger*innen zusammenbringen

Beitrag der Bewegung für Kriegsdienstverweigerung Russland (MCO)

Natalia: Hallo, mein Name ist Natalia und ich vertrete hier gemeinsam mit Taras die Bewegung zur Kriegsdienstverweigerung Russland. Ich bin keine Kriegsdienstverweigerin, denn ich bin in Russland nicht zum Militärdienst verpflichtet. Auch Taras ist es nicht. Wir sind dennoch in der Russischen Bewegung für Kriegsdienstverweigerung (MCO) aktiv, weil das für uns der Weg ist, uns für den Frieden zu engagieren.

Die Russische Bewegung für Kriegsdienstverweigerung wurde 2013 gegründet, um die Ideen und Werte des Alternativdienstes zu fördern und eine Antwort auf die Narrative der Militarisierung zu geben. Der bemerkenswerteste Wandel vollzog sich für uns im Jahr 2022 nach der russischen Invasion der Ukraine. Übrigens wird diese in Russland nicht Krieg genannt, sondern „Sonderoperation“ – eine „Sonderoperation“, die der Ukraine Frieden bringe. Wenn ich mich in den Sozialen Medien äußern und etwas schreiben würde wie „Nein zum Krieg“, könnte ich in Russland mit einer Geldstrafe belegt oder sogar für bis zu acht Jahre inhaftiert werden. Unsere Organisation hat im Juni dieses Jahres für ihr Engagement den „Status eines ausländischen Agenten“ erhalten – und dass, obwohl wir nicht einmal in Russland registriert sind.

Die MOC ist auf drei Ebenen organisiert: Teilnehmer*innen, Freiwillige – die bei uns eine zentrale Rolle spielen – und neun Koordinator*innen, die zuvor Mitglieder der Zentrale waren. Alle angestellten Mitarbeiter*innen leben außerhalb Russlands, ebenso die Hälfte der Freiwilligen. Doch ebenso viele Freiwillige und andere Menschen, die sich an unserer Arbeit beteiligen und Beratungsgespräche zum Alternativdienst führen, leben noch in Russland. Das ist enorm wichtig für uns, da unsere Anwesenheit in Russland dem russischen Publikum Vertrauen vermittelt. Sie wissen zwar, dass Medien und Organisationen, die vollständig in europäische Länder umgezogen sind, bemerkenswerte Arbeit leisten – doch möchten auch hinsichtlich ihrer Lebensumstände, wie politischer Verfolgung und Zensur, verstanden werden. In unserer Organisation gibt es dafür Verständnis, diese Bedingungen sind Teil unseres Alltags: auf der einen Seite haben wir Aktivist*innen, die sich wegen politischer Aktivitäten um ihre Sicherheit kümmern müssen und auf der anderen Seite gibt viele Leute, die sie auf internationaler Ebene unterstützen.

Was ich bezüglich des Aktivismus in Russland hinzufügen möchte: Viele männliche Aktivisten haben das Land aus Angst vor der Mobilisierung verlassen. Daher hat der Aktivismus auf politischer Ebene, für soziale Arbeit und für Frieden ein weibliches Gesicht. Der Aktivismus ist ein Teil dieser neuen Realität.

Taras: Nach der groß angelegten Invasion der Ukraine hat sich unsere Bewegung verändert. Wir verzeichnen einen enormen Zuwachs an Abonnent*innen unserer auf unseren Sozialen Medien, besonders seit der Teilmobilmachung im September 2022. Wir haben etwa 55.000 Abonnent*innen auf Telegram und auf VK (VKontakte), das ist ein russisches soziales Netzwerk – ich glaube jedes Land mit Diktator*innen hat seine eigene Version von Facebook, VK ist unsere. Die MOC hat Online-Konsultation über Telegram wieder aufgenommen. Elena, die Koordinatorin unserer Arbeit, führte zahlreiche Beratungsgespräche durch. Im Laufe dieses Jahrs konnte sie mehr als 100 Personen unterstützen, die sich mit den Herausforderungen einer Kriegsdienstverweigerung auseinandersetzten. Ich selbst war an sieben Informationssendungen auf YouTube beteiligt, die über das Engagement der MOC berichten.

Nun einige Worte zur nationalen und internationalen Lobbyarbeit: 2022 haben wir eine Petition zur Abschaffung der Militärdienstpflicht in Russland initiiert, die ein zentrales Ziel der Bewegung ist, und haben dafür bereits über 3.000 Unterschriften gesammelt. Im Juni 2023 brachten wir unsere Botschaft auf die internationale Bühne, mit einem Redebeitrag im Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen anlässlich der Überprüfung der Einhaltung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte in Russland. Darüber hinaus haben wir uns im Jahr 2022 auf nationaler Ebene aktiv für kritische Themen eingesetzt und erfolgreich öffentliche Kampagnen initiiert. Als Reaktion auf den Ausbruch des Krieges in der Ukraine veröffentlichte die Bewegung eine Erklärung, die grundlegend für unsere Auseinandersetzungen in den Folgemonate war.

Als Beispiel für einen Verweigerer möchte ich die Geschichte von Ruslan Shayakhmetov (www.connection-ev.org/article-3984) anführen, der zum Militärdienst einberufen wurde, obwohl er an einer chronischen Krankheit litt und deshalb ausgemustert werden sollte. Mit Unterstützung von Menschenrechtsaktivist*innen konnte Ruslan nach Hause zurückkehren. Es gibt viele Ruslans und viele ähnliche Geschichten.

Natalia: Mit unserer Kampagne „Gefangene für den Frieden“ machen wir auf Russ*innen aufmerksam, die bereits in Haft sind, weil sie sich weigern zu töten. Nach meinen Informationen sprechen wir von 5.000 bis 6.000 Fällen. Und doch haben die meisten Russ*innen noch nie von ihnen gehört. Ihre Urteile bleiben der Öffentlichkeit ebenso verborgen, wie die Urteile der Militärgerichte. Selbst Journalist*innen wird der Zutritt zu Militärgerichten verwehrt. Wenn doch eine Information an die Öffentlichkeit tritt, werden i.d.R. keine Namen genannt, um die Familien der Betroffenen zu schützen. Gleichzeitig versuchen wir, Kriegsdienstverweiger*innen auf regionaler zusammenzubringen, um nicht nur über das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu sprechen, sondern auch über Menschenrechte, Friedensbildung und weitere, globale Themen, damit wir Brücken zu anderen Ländern bauen und internationalen Kampagnen beitreten können.

In den letzten beiden Jahren habe ich immer wieder betont, dass Menschen sich in falscher Sicherheit wägen, wenn sie glauben, niemals in meiner Haut stecken zu werden – auch andere können Bürger*innen eines Staates werden, der willkürliche politische Entscheidungen trifft. Auch andere können die Angst davor entwickeln, dass ihre Leute, ihre Freund*innen und Familie für einen Krieg mobilisiert werden. Daher müssen wir als Menschenrechtsorganisationen auch über die Zukunft nachdenken. Wir müssen uns fragen, wie wir Frieden nachhaltig gestalten, eine Kultur des Friedens fördern und diese Werte mit Gleichgesinnten teilen können.

Nicht alle Kriegsdienstverweiger*innen sind Pazifist*innen, aber sie haben sich bereits geweigert zu töten und sich aktiv gegen den Militärdienst und einen Einsatz an der Front entschieden, mit allen Konsequenzen. Wir sollten mit ihnen zusammenarbeiten, Bildungsprogramme anbieten, sie zu Multiplikator*innen machen, um unsere Themen weiterzutragen: in ihre Familien und zu ihren Freund*innen. Ich bin Realistin, aber ich glaube auch, dass dies ein Weg ist, Frieden nachhaltig zu gestalten, auch wenn dies manchmal Jahrzehnte braucht.

Taras und Natalia sind Aktive der Bewegung für Kriegsdienstverweigerung Russland

Movement for Conscientious Objectors, vk.com/stoparmy, https://t.me/pchikov, www.stoparmy.org

Taras & Natalia, Bewegung für Kriegsdienstverweigerung Russland: Wir wollen Kriegsdienstverweiger*innen zusammenbringen. Redebeitrag auf der Internationalen Konferenz „Kriegsdienstverweigerung in Asien - Analysen und Perspektiven“, 19. November 2023 in Seoul, Südkorea. Der Beitrag wurde veröffentlicht in der Broschüre „Internationale Konferenz Kriegsdienstverweigerung in Asien“, Herausgegeben von Connection e.V. in Kooperation mit World Without War und War Resisters International, März 2024

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